Das Hausbuch der Legenden
in der Unterwelt und sahen dort alle, die seit der Erschaffung der Welt gestorben sind. Plötzlich wurde es um Mitternacht taghell, wir alle standen in einem glänzenden Licht, das heller war als das Licht der Sonne, und wir sahen einander. Vater Abraham, die Patriarchen und Propheten zeigten große Freude, und Jesaias sagte: »Dieses Leuchten kommt vom Vater, vom Sohn und vom Heiligen Geist! Das habe ich prophezeit, als ich noch lebte.« Da trat unerwartet ein Asket aus der Wüste in unsere Mitte, den keiner kannte. Die Patriarchen fragten ihn:
»Wer bist du?« Und er antwortete: »Ich bin Johannes, der letzte der Propheten. Ich habe die Wege des Gottessohnes geebnet und dem Volk Buße gepredigt, damit ihm seine Sünden vergeben werden. Und als Gottes Sohn zu mir kam und ich ihn von ferne sah, sagte ich zum Volk: ›Seht Gottes Lamm, das die Sünden der Welt hinwegnimmt!‹ Und mit
dieser meiner Hand taufte ich ihn im Jordan. Ich sah den Heiligen Geist wie eine Taube auf ihn kommen, und ich hörte die Stimme Gottvaters: ›Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.‹ Und jetzt sandte er mich voraus, um euch zu verkünden, daß der eingeborene Sohn Gottes zu euch kommt; denn wer an ihn glaubt, der soll gerettet werden; wer aber nicht an ihn glaubt, der wird gerichtet. Deshalb hört alle gut zu: Betet ihn alle an, sobald ihr ihn seht! Nur jetzt könnt ihr dafür Buße tun, daß ihr in der oberen eitlen Welt die Götzen angebetet und gesündigt habt! Ihr werdet dazu keine andere Gelegenheit mehr finden!« Als der Erstgeschaffene, der Urvater Adam, dies hörte, sagte er zu seinem Sohne Seth:
»Erzähle den Vorvätern des Menschengeschlechts und den Propheten, wohin ich dich schickte, als ich todkrank war!« Da sprach Seth zu den Patriarchen und den Propheten: »Als mein Vater Adam, der Erstgeschaffene, auf den Tod krank wurde, gebot er mir, an das Tor des Paradieses zu gehen. Ich wollte Gott darum bitten, mir durch einen Engel Öl vom Baum des Erbarmens zu geben. Ich wollte mit dem Öl meinen Vater salben, damit er wieder aufstehen könnte. Ich ging also und betete zu Gott. Da kam ein Engel des Herrn und fragte, was ich wolle. Ich trug meine Bitte vor. Der Engel aber antwortete:
›Du kannst jetzt weder den Ölbaum noch das Öl bekommen.
Geh hin und sage deinem Vater, daß der menschgewordene eingeborene Sohn Gottes erst 5500 Jahre nach Erschaffung der Welt unter die Erde steigen wird. Er wird deinen Vater selbst mit diesem Öl salben. Gottes Sohn wird dann auferstehen und ihn und seine Nachkommen mit Wasser und mit dem Heiligen Geist taufen. Dann erst wird dein Vater geheilt werden. Jetzt ist das unmöglich.‹ Als die Patriarchen und Propheten dies hörten, freuten sie sich.
Auf einmal erschien mitten in dieser freudig gestimmten Versammlung der Satan, der Erbe der Finsternis. Er sprach zu Hades: »Unersättlicher, Allesverschlinger, höre meine Worte!
Wie ich erfahre, gibt es einen Mann aus dem Judenvolk, der Jesus heißt und sich als Sohn Gottes ausgibt. Ich weiß aber, daß er nur ein Mensch ist. Auf mein Betreiben hin haben ihn die Juden gekreuzigt. Er ist jetzt tot. Darum halte dich bereit, ihn hier einzusperren! Ich weiß, daß er nur ein Mensch ist; denn ich habe ihn klagen hören. ›Meine Seele ist betrübt bis in den Tod!‹ Er hat mir in der Welt droben viel Böses angetan.
Wo er meine Diener fand, trieb er sie aus; alle Menschen, die ich bucklig, blind, lahm, aussätzig gemacht hatte, heilte er; er sprach nur ein einziges Wort, und sie waren gesund; ja, er machte mit einem Wort die Toten wieder lebendig!« Hades aber erwiderte: »Ja, glaubst du denn wirklich, daß du einem widerstehen kannst, der mit einem einfachen Wort derartige Wirkungen erreicht? Du legst seine Worte aus und meinst, er habe den Tod gefürchtet. Ich aber glaube, er hat nur sein Spiel und seinen Spott mit dir getrieben! Er ist entschlossen, dich mit gewaltiger Hand zu packen. Dann aber wehe dir, wehe dir für alle Ewigkeit!« Darauf erwiderte der Satan:
»Allesverschlingender, unersättlicher Hades, sage mir, warum hast du plötzlich Angst, wenn du von unserem gemeinsamen Feind hörst? Ich habe mich nicht vor ihm gefürchtet! Ich habe die Juden dahin gebracht, ihn zu kreuzigen und ihn mit Galle und Essig zu tränken! Also mach’ dich bereit, ihn in deine Gewalt zu bringen, sobald er kommt!« Hades aber antwortete:
»Erbe der Finsternis, Sohn des Verderbens, Teufel! Hast du mir nicht berichtet, daß er durch
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