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Das Heerlager der Heiligen

Das Heerlager der Heiligen

Titel: Das Heerlager der Heiligen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Raspail
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niederging. Die Menschen in den Straßen hatten keine Zeit mehr gefunden, noch weiter zu marschieren. Jetzt packte sie die Wasserhose.
    Bis zu dieser Minute hatte sich die Menge vom Ganges erst einmal vorgetastet, ohne ein genaues Ziel zu haben. Neugierig sahen sie sich um. Zwischen dem Fabelland, das sich vor ihnen auf tat, mit seinen schattigen, sauberen Straßen längs der für sie unfaßbaren Villen und Wohnhäuser und ihrem eigenen Elend bestand ein solcher Unterschied, daß sie sozusagen eher eingeschüchtert waren, zumindest aber Achtung empfanden. Während der langen Überfahrt hatten die Ausgehungerten dauernd von einem Land geträumt, von dem ein Mythos ihrer Vorstellung entsprechend ausging. Jetzt, wo alles greifbar vor ihnen lag, konnten es viele nicht glauben. Vorsichtig betasteten sie die Bäume, die betonierten Straßen, die Wohnungstüren und Gartenmauern, ob sich nicht alles in einer Fata Morgana auflösen würde.
    Der Regen setzte jedem Zweifel ein Ende. Die Fata Morgana wurde greifbar. Jetzt begann ein Ansturm auf die Häuser, Kirchen, Lager und Villen, auf alles, was Schutz bieten konnte. Dem Sturm der Menge widerstand keine Tür. Indessen machte sich bereits der Anfang einer Organisation und auch eines hierarchischen Aufbaus bemerkbar. In einem Lager hatte man Eisenstangen und Holzplanken gefunden. Diejenigen, die auf den Gedanken kamen, dieses Material als Rammbär gegen die Türen zu benutzen, wurden schnell Bandenführer und ernteten nach Aufbrechen der Türen reichen Beifall. In einer knappen Stunde waren alle wohlgeborgen untergebracht. Ohne den Regen hätte sich dieser Prozeß in die Länge gezogen. Als er aufhörte und der schwächer werdende Wind die letzten schwarzen Wolken verjagt hatte, wurden Türen und Fenster geöffnet, füllten sich die Balkone, Terrassen und Vorplätze. Bis zu den höchsten Stockwerken sah man in den breiten Fensterrahmen der Wohnhäuser schwarze Gestalten. Über Straßen und Bäume hinweg und von einer Loggia zur andern rief man sich zu. Ein einziges fröhliches Thema beherrschte die Szene: »Alles klar! Wir haben es geschafft!«
    Es soll nicht unsere Aufgabe sein, eine Beschreibung zu geben, wie sich die Völker vom Ganges und alle, die noch nachfolgten, in Frankreich niedergelassen haben. Aufbau und Organisation dieses Vorgangs steht in allen Lehrbüchern der neuen Welt im ersten Kapitel. Aber über die entscheidende Rolle, welche der Sturm und der Regen gespielt haben, findet man kein Wort.
    Als die erste Freude sich gelegt hatte, wurde allen klar, daß selbst bei den an dichtes Zusammenleben gewohnten Menschen der bisher besetzte Küstenstreifen nicht ausreichen werde. Aber diejenigen, welche zu den obersten Stockwerken der Wohnhäuser gestiegen waren, entdeckten bald die Ausdehnung ihrer Eroberung. So weit das Auge reichte, bot sich ein Land, das ihnen als das schönste, das reichste und das liebenswerteste der Welt erschien. Die Dichte der Ansiedlungen schadete offenbar der Natur nicht. Sie war sogar voll entfaltet, und die vielen Dächer flößten Vertrauen ein. Das war doch anders als eine Wüste! Weiter entfernt, am Fuß bewaldeter Hügel entdeckten die entzückten Späher riesige Felder mit blühenden Bäumen und andere, die grünten und auf eine gewaltige Ernte hoffen ließen. Singend wie Muezzins oder öffentliche Ausrufer gaben sie hiervon Kunde. Die Nachricht eilte von Mund zu Mund. Auf den Straßen, in den Gärten und auf den öffentlichen Plätzen raunte man sich diese Nachricht zu und hielt Versammlungen ab. Der Regen und der dadurch ausgelöste Ansturm hatten ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl geweckt. Die erschöpfte Menge hatte wieder zu einer Moral zurückgefunden. Zu einer eisernen Moral. Einer Eroberermoral. Sie wirkte so nachhaltig, daß mehr als Dreiviertel der Gesündesten und Unternehmungslustigsten sich entschlossen, weiterzumarschieren. Später machten die Historiker aus dieser spontanen Bewegung ein Heldengedicht mit der Überschrift: »Die Eroberung des Nordens.« Und da geben wir ihnen recht, aber nur bedingt. Man darf den andern Teil des Diptychons nicht vergessen: die Flucht nach Norden, den jämmerlichen Exodus der wahren Besitzer des Landes, ihre ausgesprochene Selbsterniedrigung, ihren widerlichen Verzicht. Das ist das Antiheldengedicht! Wenn man bei beiden Menschenmassen das Für und Wider abwägt. Wird alles klar …

44.
     

    Der Sturm trieb nur wenige Wogen auf den Strand, diese aber mit außergewöhnlicher Stärke.

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