Das Heerlager der Heiligen
Galavorstellung. Heute wird zuerst mal besetzt und zwar eine Autobahnzahlstelle, wo wir Geld eintreiben werden. Für alle, die aus dem Süden kommen und nach Norden wollen, gilt der zehnfache Tarif, zweihundert Francs, versteht sich! Sie werden zahlen, ohne zu maulen. Sie haben es viel zu eilig, um wegzukommen. Nach Süden geht es zögernd, es sei denn, es handelt sich um Kumpels. Die Polizei hat eine bewegliche Sperre mit Schwerpunkt eingerichtet. Der erste militärische Konvoi ist uns unter der Nase durchgefahren. Er fuhr zu schnell. Wir hatten keine Zeit, uns darauf einzustellen. Dem zweiten gelang es nicht. Dem Jeep des Offiziers und den ersten drei Lastkraftwagen wurden die vier Reifen auf gestochen. Ich habe gesagt: ›Pause! Alles runter von den Fahrzeugen!‹ Die Soldaten haben gelacht. Aber der Offizier war hart. Er hat seine Leute in Kampfstellung formiert und dann geschrien: ›Räumt mir das ab!‹ Ich habe dann gesagt: ›Schaut uns gut an, Jungs! Wir sind fast im gleichen Alter. Alle, die Arbeiter, Bauern, Studenten oder Proletarier sind, sollen beiseitetreten.‹ Da kam Leben in die Reihen. Der Offizier war schließlich mit fünf armen Typen allein, die sich bemühten, ihn von weiterem abzuhalten. Auch sie mußten noch laufen.«
»Und der Offizier?« fragte Dio.
»Er versucht, ein Kilometer von hier entfernt Fuß zu fassen. Ich weiß nicht, ob es ihm gelingen wird. Man hat ihn völlig fertiggemacht.«
Dio lachte. Mitten auf dem Parkplatzgelände, vor dem Gebäude des Polizeipostens, erwärmte sich vor einem großen Holzfeuer eine Menge junger Leute in verschiedenen Uniformen und Blusen und mit unterschiedlichen Helmen und Mützen. Unter Freudenfeuern, Liedern und Scherzen vertrieben sie sich die Zeit. Dies alles klang nicht gerade bösartig. Wagenwände und Bänke der nicht mehr gebrauchten Lastkraftwagen gingen fröhlich in Flammen auf. »Ich meine, wir ziehen jetzt auf Nebenstraßen nach Süden«, sagte Panama Ranger. »Es scheint, daß die Polizisten weiter unten ziemlich bösartig sind. Aber wir hinterlassen hier unser Testament.« Er zeigte auf die Dachfront der Autobahnzahlstelle, auf der ein grell erleuchtetes Transparent angebracht war:
»Proletarier, Soldaten, Volk vom Ganges, wir sind die Einheitsfront gegen die Unterdrückung«.
»Tadellos«, meinte Dio, »aber seht zu, daß Ihr wegkommt. Es werden bald fünf Panzer vorbeirollen, mit einem wütenden Obersten, der sofort schießt, glaubt mir!«
»Gut«, erwidert der Junge. »Chao! Wir sehen uns an der Küste wieder.«
»Wann?« fragt Dio.
Der andere lachte. »Wir haben es nicht eilig. Nach Abzug all dieser Schweine, die nach Norden fliehen, um in der Sonne Ferien zu machen, wird es da unten in unserer Ecke nicht an Villen mangeln, und ich hoffe nur, daß sie die Schwimmbäder nicht geleert haben. Die Revolution beginnt immer zuerst mit einer angenehmen Zeit!«
Das dachte auch Dio in diesem Augenblick, denn ein fröhliches Durcheinander begann, als zwei oder drei Blechkisten sich streiften, deren ausgelassene Fahrer sich nach Art guter Franzosen am Steuer gegenseitig beschimpften. Schließlich verschwand der ganze Haufen in der Nacht. Clément Dio hörte nur noch den Refrain, den er geschrieben hatte: »Denn die Zeit der tausend Jahre vollendet sich, und es vollendet sich die Zeit der tausend Jahre …«
Eine kurze Stille trat ein. Sie wurde erneut vom drohenden Lärm der Panzer von Dragasès unterbrochen, die jetzt aus dem Dunkel im Licht der Autobahnzahlstelle auftauchen. Das Kanonenrohr des Spitzenpanzers hob sich leicht und feuerte hintereinander vier Schüsse ab. In einer Wolke von Staub fiel das Gerüst mit dem hübschen Transparent, das Testament des Panama Rangers, herunter. Der Oberst mochte solche Schlagworte nicht. Ohne das Tempo zu verringern fuhren die fünf Panzer über den Schutthaufen und verschwanden in Richtung Süden …
Am Stadteingang von Lyon wandte sich Dio der Umgehungsstraße zu, die zu dieser nächtlichen Zeit leer war, während gleichzeitig die Straßen der Stadt von Militärkolonnen erschüttert wurden. Dio bog dann nach links in die Straße nach Grenoble ein, die durch ein Hinweisschild »Touristenstrecke nach Nizza über die Napoleonstraße« gekennzeichnet war.
Wie von einem inneren Jubel beseeligt lachte Iris Nan-Chan vor sich hin. »Mein lieber kleiner Adler«, sagte sie, »du fliegst ja von Turm zu Turm bis zu den Türmen von Negresco! Napoleon Dio!« In Grenoble stand eine Vorstadt am Rand der
Weitere Kostenlose Bücher