Das Herz der Feuerinsel: Roman (German Edition)
streckte die Hand nach ihr aus.
»Sir Raffles hat übrigens auch den buddhistischen Tempel von Borobodur wiederentdeckt«, erzählte er, als Jacobina an seiner Hand das Piedestal hinabstieg. »Eine riesenhafte Stufenpyramide aus grauem Stein im Herzen Javas, mit wunderbaren Reliefs und Buddhastatuen. Und wenn man auf der obersten Terrasse steht, blickt man auf Berge und grüne Täler.« Seine Augen glänzten, und er lächelte versonnen, als er leiser hinzufügte: »Da fühlt man sich dem Himmel sehr nahe.«
Jans Worte ließen Bilder in Jacobina aufsteigen und eine verlockende Ahnung vollkommener Freiheit. »Da würde ich gerne einmal hin«, flüsterte sie sehnsüchtig.
Sein Lächeln vertiefte sich, und er strich ihr über die Wange. »Das verblüfft mich immer aufs Neue an dir: wie offen du für das Land hier bist.«
Jacobina wandte das Gesicht ab und schüttelte verlegen den Kopf; als besonders offen hatte sie sich nie empfunden.
»Es ist eine etwas umständliche Reise von mehreren Tagen«, setzte Jan hinzu und verschränkte seine Finger mit ihren. »Aber wenn du mal wieder längere Zeit freinehmen kannst, fahre ich gern mit dir dorthin. Jetzt besuchen wir erst einmal deine Freundin im Preanger.« Während sie Hand in Hand ihren Weg fortsetzten, sah er sie von der Seite her an. »Bis zu deinem Brief wusste ich nicht einmal, dass du hier auf Java eine Freundin hast. Erzähl mir von ihr.«
»Erst, wenn du mir verrätst, was der Junge gestern zu dir gesagt hat!«, wich Jacobina neckend aus.
Als sie gestern durch das chinesische Viertel gebummelt waren, war ein Junge, vielleicht ein, zwei Jahre älter als Jeroen, in langen Hosen und lockerem Hemd, ein Käppchen auf dem kurzgeschorenen Haar, freudig auf sie zugestürmt. Einer von seinen Schülern, wie Jan ihr erklärt hatte, der sich erst ehrerbietig vor seinem Lehrer verneigt und sich gleich darauf unter viel Lachen und Glucksen einen spielerischen Boxkampf mit ihm geliefert hatte. Dann war sein Blick auf Jacobina gefallen, und er hatte Jan am Hosenbein gezupft, der gehorsam in die Knie gegangen war. Hinter vorgehaltener Hand hatte er Jan etwas ins Ohr geflüstert, und ebenfalls hinter vorgehaltener Hand hatte Jan zurückgeflüstert, worauf der Junge kichernd wieder davongelaufen war und Jacobina verunsichert zurückgelassen hatte.
Jan legte den Kopf in den Nacken und lachte. »Ich hab dich zuerst gefragt! Also, erzähl schon!« Vergnügt ließ er ihre ineinander verschränkten Hände vor- und zurückschwingen.
»Wir haben uns auf der Überfahrt kennengelernt. Floortje ist …« Ein kleines Lächeln schien auf Jacobinas Gesicht auf, als ihr Herz glücklich aufzuckte. »Sie ist ganz anders als ich. Sie ist klein und lebhaft und redet gerne und viel. Und sie ist …« Hübsch. Das Lächeln verlosch. »Sie … sie hat sich gerade erst mit einem Pflanzer im Preanger verlobt.« Jacobina verstummte.
Die Vorfreude darauf, Floortje, die am Ziel ihrer Träume angelangt war, wiederzusehen und auch endlich James kennenzulernen, trübte sich zunehmend, je näher die Fahrt in den Preanger heranrückte. Neben Floortje musste sie für Jan unweigerlich blass und fade wirken – Jan, der einmal in Margaretha de Jong verliebt gewesen und wenig später eine einheimische Geliebte gehabt hatte, eines dieser kleinen, bronzehäutigen, elfengleichen und sinnlichen Wesen. Nachdem sie am ersten Abend hier in Buitenzorg ein wayang kulit , ein Schattenspiel, gesehen hatten, dessen Figuren mit den großen, markanten Köpfen und langen dürren Gliedern sie gleichermaßen faszinierend wie grotesk fand, war sie noch immer von der Tanzdarbietung betört, die sie am Vortag besucht hatten. Zur Musik des gamelan , dumpfe Trommeln, hellere, leicht und hohl klingende Schlaginstrumente und ein scheppernder Gong, dazu ein jammerndes Saiteninstrument, hatten vier junge Mädchen, fast Kinder noch, einen Tanz aufgeführt, der anmutiger und eleganter war als alles, was Jacobina bisher gesehen hatte. So zart hatten diese Mädchen gewirkt, so filigran waren ihre Bewegungen gewesen, und so schön hatten sie ausgesehen in ihren langen, steifen Röcken aus glänzendem Stoff, den enganliegenden Oberteilen, die Schultern und Arme freiließen, mit ihrem zierlichen Kopfputz und dem vielen Goldschmuck und sorgfältig geschminkt. Was Jan ihr über die Bedeutung dieses Tanzes erzählt hatte, über die alten Mythen, die damit dargestellt wurden, war kaum zu ihr durchgedrungen; immer wieder hatte sie währenddessen
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