Das Herz der Feuerinsel: Roman (German Edition)
fünften Tag hier, hatte er sie darüber in Kenntnis gesetzt, dass der abschließende Bericht Doktor Dekkers für den morgigen Montag erwartet und dass er dann auch noch einmal zu den de Jongs zu einer neuerlichen Befragung fahren würde; danach würde man weitersehen. Sonst bekam Jacobina nur die einheimische Frau zu Gesicht, die mehrmals am Tag den Raum betrat, um ihr die einfachen, aber schmackhaften Mahlzeiten und Wasser oder Kaffee zu bringen, das leere Geschirr mitzunehmen, das Wasser der Waschgelegenheit auszutauschen und den Nachttopf zu leeren – was Jacobina jedes Mal aufs Neue unsagbar peinlich war.
Jacobina zog die Knie näher zu sich heran und umschlang sie fest. Bei ihrem Aufbruch hatte sie vergessen, Lektüre einzupacken, und sie traute sich nicht, Beyerinck nach einem Buch zu fragen. Lieber blieb sie sich selbst überlassen, an diesen endlosen Tagen, an denen sie zwischen den kahlen Wänden stundenlang auf und ab marschierte, weil ihr die Glieder schmerzten und immer wieder eine Unruhe von ihr Besitz ergriff, die sie von sich sonst nicht kannte. Dann wieder gab es Stunden, in denen sie reglos auf dem Bett lag oder in einer Ecke kauerte und nicht die Kraft aufbrachte, auch nur einen Finger zu rühren. Sie schlief wenig und schlecht, immer nur für kurze Zeitspannen den Tag und die Nacht über, von wirren Träumen verfolgt und von einer Angst gepeinigt, die sie immer wieder mit Übelkeit und einem rasenden Herzschlag hochschrecken ließ, der ihr in der Brust stach.
Ein Donnerschlag ließ Jacobina auffahren. Gedämpft zwar durch die Hauswände, aber dennoch krachend laut und mit einem Nachhall, der die Luft beben ließ. Erschrocken horchte sie nach draußen; die Musik schien verstummt, stattdessen drangen erregte Stimmen an ihr Ohr. Aber nachdem niemand zu ihr kam und die Stimmen nach dem ersten Schrecken eher überrascht und staunend klangen denn verängstigt oder gar panisch, wie angesichts eines beeindruckenden Naturschauspiels, beruhigte sich ihr Herzschlag wieder. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich mit Schulter und Schläfe gegen die kühle Wand.
Die Enttäuschung, die Jan ihr bereitete hatte, wühlte sich immer aufs Neue beißend durch sie hindurch; auch jetzt stiegen ihr wieder Tränen in die Augen. Wie konnte er sie nur im Stich lassen? Immer wieder hatte sie sich gefragt, ob sie ihn gekränkt oder vor den Kopf gestoßen hatte, aber sie fand einfach nichts, was sein Verhalten erklärte. Was war es nur, das alle Menschen, die sie an sich heranließ, dazu brachte, sich früher oder später von ihr abzuwenden? Betje, Johanna, Jette und Henny. Tine. Floortje. Die de Jongs. Und jetzt auch Jan, der Mann, der ihr so lange das Gefühl gegeben hatte, sie sei liebenswert. Der sie sogar gefragt hatte, ob sie ihr Leben mit ihm verbringen wolle. Was war so furchtbar an ihr, dass es niemand mit ihr aushielt?
Jacobina wischte sich über die nassen Wangen. Immer wieder ging sie in Gedanken durch, was sie falsch gemacht hatte. So kleine Dinge waren es gewesen, mehr Missgeschicke und Unachtsamkeiten denn wirkliche Vergehen oder gar Sünden. So kleine Dinge, so bedeutungslos eigentlich, und dennoch war daraus ein solcher Alptraum erwachsen. Ausgerechnet für sie, Jacobina, die ihr Leben lang darauf geachtet hatte, stets alles richtig zu machen. Die sich immerfort den Kopf darüber zerbrochen hatte, was sich schickte und wie sie auf andere wirkte und was andere über sie dachten.
Ein bitteres Lachen entfuhr ihr, und mehr Tränen strömten nach, die sie ungehindert fließen ließ. Ihre einzige Sünde war gewesen, nicht im Traum daran gedacht zu haben, dass sie bei Vincent de Jong Begehrlichkeiten wecken könnte. Ihre Eitelkeit, sich davon geschmeichelt zu fühlen. Vor allem aber ihre Scham, was sie selbst an Begehrlichkeiten empfand, und die Scham, die sie davon abgehalten hatte, Frau de Jong und Jan davon zu erzählen, dass der Major sie bedrängt hatte.
Wenn sie hier jemals als freier Mensch herauskommen sollte, würde sie nicht mehr so dumm sein. Sie würde tun und lassen, was ihr richtig erschien, ihr allein; sollten die anderen sie doch scheel anschauen und sich die Mäuler zerreißen. Viel zu lange hatte sie sich bemüht, anderen gerecht zu werden; eine Mühe, die sie sich hätte sparen können. Falls sie hier jemals wieder herauskam, würde sie sich nicht mehr schämen für das, was sie dachte und empfand. Und auch nicht für das, was sie war.
Falls sie je wieder in Freiheit
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