Das Herz der Feuerinsel: Roman (German Edition)
und dem nächsten, das zum Teil eingestürzt war und fast nur noch aus einem zerborstenen Überrest an Latten und Balken bestand, die unter der Flut schwankten und schaukelten. Mit einer Hand klammerte sich eine Frau zwischen den Palmwedeln fest und versuchte verzweifelt, ein kleines Kind in ihrem anderen Arm über Wasser zu halten, das abwechselnd die Lippen zusammenpresste und den Mund zu tonlosem Weinen öffnete. Ein blondes Kind, das Haar von der Sonne fast weiß gebleicht.
Jacobina schluckte. Ida?
Der nächste Blitz flammte auf, warf sein grelles Licht auf die Palme und beseitigte jeden Zweifel. Ida. Ida und ihre Mutter.
Im Dunkeln tastete Jacobina fahrig über die Streben des Geländers und rüttelte prüfend daran. Ein paar schienen lose zu sein, und kräftig hieb sie mit dem angewinkelten Unterarm dagegen. Sie verbiss sich den Schmerz und drosch weiter dagegen, bis das Holz splitterte und brach.
Jacobina ließ sich auf den Bauch fallen und schob sich durch die Lücke hindurch nach vorne; sie spreizte die Beine und zog die Knie leicht an, suchte zusätzlich mit der Schulter Halt an einer der Streben und streckte die Arme vor.
»Frau de Jong!« Sie rief so laut, wie es ihr wunder Hals und ihre verätzten Lungen zuließen. »Frau de Jong! Ich bin’s, noni Bina! Geben Sie mir Ida!«
Ein Lichtzucken enthüllte das verwirrte Gesicht Margaretha de Jongs, das Kinn von Wasser überspült. Jacobina rutschte noch ein Stück weiter vor; fast konnte sie schon nach Ida greifen.
»Geben Sie mir Ida, Frau de Jong! Wenn ich sie bei mir habe, können Sie sich mit beiden Händen über Wasser halten. Oder ich ziehe Sie auch noch zu mir herüber!«
»M’Greet!«
Keuchend hob Jacobina den Kopf.
In einer schnellen Folge flackerte das gespenstische Licht unter hallendem Krachen auf und ab, und Jacobina sah Vincent de Jong, wie er sich im Wasser um die Ruine herumtastete, dann die Hand nach seiner Frau ausstreckte, die sich ihm zuwandte. Weitaus mehr als eine Armlänge fehlte, als dass er sie hätte erreichen können, und sie hatte keine Hand frei, nicht, wenn sie sowohl Ida als auch sich in der unerbittlichen, vorwärtsströmenden Gewalt der Flut an der Oberfläche halten wollte. Und es sah so aus, als hätte Frau de Jong nicht mehr viel Kraft in diesem Wasser, das strudelte und schäumte und Schutt und Tierkadaver vorbeischwemmte, wenn es auch nicht mehr die Wucht besaß, mit der die Flut das Amtsgebäude des Contrôleurs hinweggefegt hatte. Selbst eine gute Schwimmerin wie Jacobina liefe Gefahr, sofort abgetrieben zu werden.
»Griet!«, schrie Jacobina scharf. »Geben Sie mir Ida!«
»Ich bin hier, M’Greet!«, hörte sie den Major poltern. »Hier!«
»Griet! Geben Sie mir Ida!«
Wie in einer bizarren Pantomime blitzten Bilder vor Jacobinas Augen auf, von einzelnen Posen, ohne dass die Bewegungen dazwischen sichtbar waren. Vincent de Jong, wie er nach seiner Frau brüllte und ihr die Hand entgegenstreckte. Jacobinas eigene Arme, die sich nach Ida reckten. Und dazwischen Margaretha de Jong, die unschlüssig den Kopf zwischen ihnen beiden hin und her wandte.
»Bitte, Griet!«, versuchte es Jacobina noch einmal. »Geben Sie mir Ida!«
Ihr Blick verhakte sich mit dem Margaretha de Jongs, und sie sah, wie diese sich von der Palme wegstemmte, ohne sie loszulassen, auf Jacobina zu. Es wurde finster und gleich wieder hell, und Jacobina griff beherzt zu. Sie packte Ida so fest bei den Oberarmen, wie sie konnte, krallte ihre Finger in das zarte Fleisch, auch wenn sie spürte, wie sehr sie ihr dabei wehtat. Das Licht verlosch, und Jacobina robbte zurück, zog Ida durch das Wasser, das an dem kleinen Leib zerrte wie eine böse Hexe, die das Mädchen für sich beanspruchte. Jacobinas Handgelenke schienen unter Idas Gewicht jeden Augenblick zu brechen, die Sehnen zu reißen, und sie fühlte den Sog, mit dem die Flut danach trachtete, auch sie über die Kante zu ziehen und mit zu verschlingen.
Ich werd’s nicht schaffen. Ich werd’s nicht schaffen. Ich muss. Ich muss.
Sie biss die Zähne zusammen und zog kräftig an Ida, schleifte sie über die Kante hinweg, sodass der Kinderkörper hart anstieß und darüber hinwegschrammte. Ida wimmerte auf.
»Tut mir leid«, murmelte Jacobina keuchend. »Tut mir so leid.«
Sie zog Ida durch die Lücke hindurch und zu sich heran, stemmte sich schwerfällig hoch und setzte sich halb auf. Ida hustete und würgte, spie Bäche von Wasser aus; Jacobina klopfte ihr kräftig auf den Rücken,
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