Das Herz der Feuerinsel: Roman (German Edition)
nagendes Gefühl spürte. Wie eine Art von Hunger, den sie nicht gekannt hatte, bevor sie hierhergekommen war.
Sie blickte auf, als einer der Tischdiener herantrat und die Gedecke der de Jongs abräumte.
» Tuan de Jong wie Tiger«, sagte er leise und deutete ein scheues Lächeln an, das hell in seinem bronzenen Gesicht aufschien.
»Ja«, erwiderte Jacobina und musste unwillkürlich ebenfalls lächeln. » Terima kasih «, sagte sie, als sie aufstand; dann zögerte sie. Aller Wahrscheinlichkeit nach war er Muslim, aber vielleicht konnte sie ihm dennoch ein frohes Fest wünschen. »Fröhliche Weihnachten.«
»Fröhlig Weihnagt, noni Bina.«
In der Halle blieb sie stehen und betrachtete den Christbaum neben dem Piano, ein einheimisches Nadelgewächs, dessen weiche Zweige sich unter der Last der Kugeln, der Engel und Krippentiere aus bemaltem und mit glitzernden Partikeln überzogenen Glas weit herabbogen. Wie an Weihnachten zu Hause hatten unter diesem Baum die Geschenke gelegen, auf die Jeroen und Ida sich nach ihrem Vortrag gestürzt hatten. Ungestüm hatten sie an Schleifenbändern gezuppelt und Papier aufgerissen, mit glänzenden Augen unzählige Spielsachen hervorgezerrt wie eine neue Puppe mit einer ganzen Garderobe an Kleidchen und Schühchen, eine Spieldose mit einer sich im Kreis drehenden Prinzessin, einen bunten Kreisel, ein Steckenpferd und einen Baukasten. Eingehend hatten sie alles betrachtet und ausprobiert, bis es für sie Zeit gewesen war, unter Melatis Aufsicht zu Abend zu essen und von ihr ins Bett gebracht zu werden wie an jedem anderen Abend im Jahr auch, während die de Jongs mit Jacobina in die Willemskerk zur Christmette gefahren waren, an die sich die rijsttafel hier im Haus angeschlossen hatte.
Es war seltsam, hier in den Tropen Weihnachten zu feiern, bei unverminderter Schwüle, während draußen der Regen herniederging, und zum ersten Mal verspürte Jacobina einen Anflug von Heimweh, eine Sehnsucht nach Kälte, Schnee und Eisblumen vor den Fenstern und sogar ein kleines bisschen nach ihrer Familie.
Seufzend lenkte sie ihre Schritte zur Treppe und blieb stehen, als sie auf halber Höhe eine kleine Gestalt in weißem Hemdchen entdeckte, die sich mit einer Hand am Geländer festhielt.
»Jeroen! Was machst du denn hier?«
»Sind Mama und Papa weggegangen?«
»Ja, aber sie kommen bestimmt bald wieder«, erwiderte sie, während sie zu ihm hinaufging. Was sie zwar bezweifelte, aber der traurige Blick des Jungen hatte sie zu dieser Antwort bewogen. Sie strich ihm über den Kopf. »Ab ins Bett, du solltest längst schlafen.«
Jeroen schlang hinter seinem Rücken beide Arme um die Streben des Geländers und fuhr mit dem nackten Fuß über die Holzleiste. »Ich kann aber nicht schlafen«, maulte er, und als Jacobina zu einer Erwiderung ansetzte, fügte er schnell und wie zu seiner Verteidigung hinzu: »Ida auch nicht!«
»Ist Melati nicht da?«
Er schüttelte den Kopf. Jacobina hoffte, dass sie jetzt gerade bei ihrem Sohn war und dort ihr eigenes kleines Weihnachtsfest feierte, christlich oder nicht.
»Liest du uns was vor?« Mit schräg gelegtem Kopf sah er sie von unten herauf an.
Eigentlich hatte Jacobina es sich mit dem Buch gemütlich machen wollen, das Jan ihr geschickt hatte, A Christmas Carol von Charles Dickens; es war Jahre her, dass sie es zuletzt gelesen hatte. Aber der bittende Blick Jeroens wirkte unwiderstehlich auf sie. »Aber nur weil Weihnachten ist.«
Schlagartig hellte sich die Miene des Jungen auf; er löste sich vom Geländer und sprang mit einem Jauchzer die Treppen hinauf, dass der Saum des Nachthemds um seine Knie schlackerte.
In ihrem Zimmer entzündete Jacobina die Lampe, suchte ihre Bibel hervor und nahm beides mit ins Kinderzimmer. Jeroen kniete schon auf seinem Bett, das neue Holzschwert neben sich; erwartungsvoll sah er Jacobina entgegen, als sie die Lampe auf dem Nachttisch abstellte und das Buch danebenlegte, dann Ida aus ihrem Gitterbettchen holte, die ihr strahlend die Ärmchen entgegenreckte.
Jeroens Kissen in den Rücken gestopft, schlüpfte Jacobina aus den Schuhen, streckte sich auf dem kurzen, schmalen Bett aus und blätterte die Bibel durch, bis sie die Stelle gefunden hatte, die sie suchte. Wie selbstverständlich kuschelte sich Jeroen in ihre Armbeuge, während Ida sich halb auf Jacobinas Oberschenkel zusammenrollte und mit einem seligen Seufzer das Köpfchen in ihren Schoß bettete.
»Es begab sich aber zu der Zeit«, las Jacobina mit leiser
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