Das Herz der Feuerinsel: Roman (German Edition)
trommelten die Laufschritte Jeroens heran, und kurz darauf erklangen die langsameren Tapser Idas.
»Wo ist er hin?«, rief Jeroen atemlos neben Jacobina aus und sah sich mit der Spielzeugeisenbahn in den Händen suchend um. Die strahlende Vorfreude auf seinem Gesicht flackerte und verlosch und wich blanker Enttäuschung.
»Weg?«, wunderte sich auch Ida, ihre Lola mit beiden Händen an sich gedrückt.
»Ja, leider«, erwiderte Jacobina und streichelte Jeroen über den Kopf. »Er musste nach Hause, seine Mutter hat ihn schon gesucht. Melati bringt ihn zu ihr.« Jeroen ließ den Kopf hängen und wandte sich mit unverständlichem Gemurmel ab.
Jacobina folgte ihm in den Salon und klappte den Deckel des Pianos herunter. »Für heute haben wir genug geübt. Wollen wir hochgehen und zusammen spielen?«
Jeroen nickte und trottete wortlos davon; Jacobina konnte hören, wie er auf jeder Treppenstufe heftig aufstampfte, halb zornig, halb enttäuscht. »Komm, Ida, wir gehen hoch«, lockte sie mit einer Kopfbewegung das kleine Mädchen, stellte das umgefallene Glas wieder hin und nahm das Tablett mit der Limonade und den übriggebliebenen Keksen auf.
Einen Augenblick sah sie noch auf die Veranda hinaus. Es fühlte sich an, als hätte sich vor ihren Füßen ein Felsschlund geöffnet, der so tief und so finster war, dass sie nicht bis auf seinen Grund sehen konnte.
19
Buitenzorg, den 22. Dezember 1882
Liebe Jacobina,
sofern ich Ihre Zeilen richtig deute, hängt derzeit am Koningsplein der Haussegen gehörig schief. Ich bin versucht hinzuzufügen: wieder einmal. Denn es ist nichts Ungewöhnliches daran, wenn zwischen Vincent und Griet die Fetzen fliegen und sie sich anschließend ebenso stürmisch wieder versöhnen. In Batavia ist es längst zum geflügelten Wort geworden, dass im Hause de Jong kein Porzellanservice, kein Glas und keine Vase die Regenzeit überdauert. Fast jeder in der Stadt könnte Ihnen die eine oder andere Szene schildern, die die beiden einander im Club oder während eines Abendessens bei Freunden geliefert haben, und auch Szenen wie die, in der Vincent einmal während eines Balls vor Griet auf die Knie ging und ihr vor den versammelten Gästen als seine Zeugen ewige Liebe schwor. Das macht einen Gutteil der Anziehungskraft aus, die die beiden auf die Gesellschaft von Batavia ausüben, in der man nichts mehr liebt als Klatsch und Tratsch, kleine und große Skandale, leidenschaftliche Szenen und große Gesten. Vincent und Griet sind wie geschaffen für das Leben hier, auch und gerade in dieser Hinsicht.
Nichtsdestotrotz kann ich nachfühlen, wie unangenehm es Ihnen sein muss, unfreiwillig eben solche Szenen mitzuerleben. Für mich war es das anfangs auch, bis ich die beiden näher kennengelernt hatte. Auch wenn es Ihnen derzeit nicht so vorkommen mag, betet er den Boden an, auf dem sie geht, und sie schaut voller Hingabe und Bewunderung zu ihm auf. Vincent kann nicht ohne Griet und Griet nicht ohne Vincent, und ich übertreibe nicht, wenn ich sage, sie würden sogar füreinander sterben, sollte es nötig sein. Ich kann Ihnen versprechen, diese turbulente Zeit wird schneller vorüber sein, als Sie heute glauben mögen. Zusammen sind Vincent und Griet zuweilen wie ein kräftiges Tropengewitter, und danach scheint wieder die Sonne.
An Vincent ist es augenfälliger, aber auch Griet ist von leidenschaftlicher Natur, eine Leidenschaft, die erst hier auf Java nach und nach zum Vorschein kam. Ich muss dabei oft an etwas denken, das ich einmal gelesen habe und das meine eigenen Erfahrungen widerspiegelt. Ein Europäer, gleich aus welchem Land er kommt, wird in Ostindien zu einem vollkommen anderen Menschen. So wie die Farben im Licht der Tropen intensiver wirken, bringt das Klima hier wie unter einem Brennglas die grundlegenden Eigenschaften eines Menschen stärker hervor. Vielleicht ist es die Hitze, die alles Förmliche, Aufgesetzte, Beherrschte dahinschmelzen lässt. Vielleicht ist es aber auch die Vergänglichkeit, der hier alles wesentlich stärker unterworfen ist als bei uns in Europa, die keinen Raum mehr für steife Konventionen lässt. Die Tropen kitzeln alles aus einem hervor, mag es auch noch so tief in einem verborgen sein, alles an Gefühlen und Leidenschaften, an Schwächen und Stärken, die Mängel und auch die Abgründe in uns. Was auch immer in uns angelegt ist – die Tropen werden es zum Vorschein bringen.
Merken Sie es denn auch schon, wie Ostindien Sie verändert?
Ich wünschte sehr, ich
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