Das Herz der Kriegerin
Engel oder Heilige verhalten? Immerhin wusste ich über
ihren Glauben nur das, was mir Gabriel und Vincenzo erzählt hatten!
Nach einigen endlosen Minuten, in denen wir so ruhig verharrten,
dass selbst eine Kreuzotter achtlos über unsere Stiefelspitzen hinwegglitt,
erhob sie sich, warf noch einen Blick auf die Kühe, die sich seit ihrer Ankunft
hier nicht bewegt hatten, und marschierte dann los.
»Hast du überhaupt eine Ahnung, wie du dich ihr vorstellen
sollst?«, fragte ich, während ich versuchte, mit Sayd Schritt zu halten.
»Ich denke schon. Ich werde mich als Erzengel Michael ausgeben,
soweit ich mitbekommen habe, ist das ein sehr beliebter Engel in dieser
Gegend.«
»Michael?« Wahrscheinlich hätte sich Gabriel jetzt ausgeschüttet
vor Lachen. »Glaubst du wirklich, Michael sieht wie ein Beduinenfürst aus?«
Sayd verkniff sich ein Grinsen. »Du vergisst, dass es im Islam
auch Engel gibt. Zwei davon sind identisch mit den Erzengeln der Christen.
Michael heißt bei uns Mika’il und ist der Engel der Naturereignisse. Gabriel,
der bei uns Dschibril heißt, hat dem Propheten Mohammed den Koran
überbracht.«
Offenbar, das wurde mir jetzt klar, brauchte ich doch noch
Unterweisung in Sayds Religion. Dass er sich gerade den Engel der
Naturereignisse ausgesucht hatte, fand ich lustig, aber gleichzeitig bewunderte
ich die Klarheit, mit der er wieder einmal vorging.
Schließlich konnten wir die Kapelle vor uns ausmachen. Jeanne war
bereits darin verschwunden, wahrscheinlich betete sie gerade inbrünstig zu ihrem
Gott.
»Zieh dich aus!«, forderte Sayd plötzlich zu meiner großen
Überraschung.
»Was?«, zischte ich entsetzt. »Du meinst, wir sollen ihr nackt
gegenübertreten?«
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Nein, nicht ganz. Wir
tragen doch alle Hemden, oder? Und wie sehen die Engel in den Kirchen der
Christen aus?«
Ich war in recht wenigen christlichen Gotteshäusern gewesen, doch
den Anblick der Bilder an den Wänden hatte ich mir gemerkt.
»Jetzt brauchen wir nur noch Flügel«, entgegnete ich, während ich
mich widerstrebend aus meinen Kleidern schälte.
»Erinnert ihr euch an die Gänseherde vor dem Dorf?«, warf David
ein und mühte sich sichtlich, nicht laut loszulachen. »Vielleicht sollten wir
uns welche auf den Rücken schnallen.«
»Sieh du nur zu, dass auch du aus deinen Sachen kommst«,
entgegnete ich und versuchte, nicht allzu direkt zu Sayd zu schauen, denn die
Sonne, die ihm auf den Rücken schien, zeichnete die Konturen seines Körpers
unter dem Hemd ab, sodass man wirklich alles sah. Alles!
Wahrscheinlich war das auch bei mir der Fall und ich fühlte mich
auf einmal auf unangenehme Weise daran erinnert, wie ich einst nur mit einem
dünnen Hemd bekleidet vor die Augen der Assassinen getreten war, um jene Prüfung
abzulegen, die mir schließlich die Unsterblichkeit einbrachte. Mittlerweile
waren David und insbesondere Sayd keine Fremden mehr für mich, und sicher hatten
sie die Konturen meines Körpers schon einige Male gesehen, dennoch war es mir
unangenehm.
»Und wie zum Teufel soll ich meine Augen dazu bringen, zu
leuchten?«
Kaum hatte ich diese Frage gestellt, packte mich Sayd, zog mich an
sich und küsste mich. Vor Schreck kniff ich die Augen zu, hätte aber schwören
können, dass David ebenfalls überrascht dreinblickte.
Eigentlich hätte ich ihm eine Ohrfeige versetzen sollen, doch mein
Herz klopfte mir bis zum Hals und meine Hand zitterte. Es war nicht viel anders
als vor ein paar Monaten, als er mich in unserem Feldlager geküsst hatte. Ein
rauer, begehrlicher Kuss, nicht die Zärtlichkeit jener Nacht in Paris.
Sayd blickte mich prüfend mit seinen golden leuchtenden Augen an,
dann grinste er unverschämt. »Was für ein schönes Leuchten! Sieh zu, dass du
weiterhin wütend auf mich bist, dann wirst du das Mädchen ziemlich
beeindrucken.«
Dass ich alles andere als wütend war in diesem Augenblick, schien
er nicht zu merken. Ich versetzte ihm einen Stoß gegen die Schulter und stapfte
voraus, bemüht, meine wahren Gefühle nicht auf meinem Gesicht zu zeigen, denn im
Gegensatz zu ihm war ich ein Stümper auf dem Gebiet.
Ob meine Augen immer noch leuchteten, als wir an der Kapelle
ankamen, wusste ich nicht, doch auch ihre natürliche Farbe war alles andere als
gewöhnlich. Mein Eisblau war über die Jahre noch klarer und strahlender
geworden. Und hatte nicht der Dauphin selbst behauptet, ich sähe wie ein Engel
aus?
»Und welcher Engel soll ich
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