Das Herz der Kriegerin
Häuser zu, von dem immerhin noch ein Giebel stand. Dabei ließ er seinen Blick aufmerksam über die anderen Ruinen schweifen. Wo waren die Menschen geblieben? War es ihnen gelungen, zu fliehen? Oder hatten Wölfe, Krähen und die Zeit die Überreste verschwinden lassen?
An dem großen Haus angekommen, das ihn an irgendein Gebäude aus früheren Zeiten erinnerte, trat er durch das, was früher einmal eine Tür gewesen sein musste. Von den Möbelstücken, die hier standen, war das meiste unter dem herabgefallenen Dachstuhl begraben worden.
In einem der Balken, der seltsam ordentlich auf der darunter herrschenden Unordnung lag, bemerkte er ein eingeritztes Zeichen. Es zeigte ein Kreuz mit einem Henkel, irgendwo hatte er es schon gesehen – doch wo? Das war ebenso wie die meisten anderen Dinge aus seiner Vergangenheit in der dunklen Kammer seines Verstandes verborgen, zu der er den Schlüssel verlegt hatte.
Plötzlich fiel sein Augenmerk auf etwas, das er mit seinem Stiefel um ein Haar zertreten hätte. Beinahe unsichtbar war es auf dem dunklen Untergrund, doch die scharfen Augen des Wanderers fanden den Gegenstand auf Anhieb. Er bückte sich, rieb die Erde ab und hielt ihn dann in die Höhe.
Es handelte sich um die hölzerne Nachbildung eines seltsamen Baums mit ausladenden Wedeln. Eine Palme. Woher er das wusste, war ihm nicht klar, aber auf einmal erwachte vor seinem inneren Auge ein ganzer Wald von diesen Bäumen, von Nüssen, die davon herunterfielen, und Sand, aus dem sie ragten.
»Balian«, murmelte er leise, und wusste auf einmal wieder, dass dies sein Herr war, und dass er ihm dieses Stück Land, auf dem die Palmen standen, geschenkt hatte.
Da sie ihm offenbar half, seine Erinnerung zurückzugewinnen, ließ der Mann die Palme in seine Tasche wandern und sah sich dann weiter um. Er fand noch mehr seltsame Schnitzereien, weiße Pyramiden, Hunde auf zwei Beinen, schwarze Kamele. Diese weckten, bis auf die Pyramiden, keine Erinnerung in ihm.
»Bei allen Heiligen, ich fasse es nicht!«, sagte auf einmal eine Stimme hinter ihm.
Als er sich umwandte, blickte er in das Gesicht eines blonden Mannes, der ihm ungemein bekannt vorkam. Auch ihn hatte er in einem seiner Erinnerungsfetzen gesehen.
»Gabriel!«, rief der Blonde, als er sich von dem ersten Schrecken erholt hatte. »Erkennst du mich nicht? Ich bin’s, Vincenzo!«
Der Wanderer blieb wie angewurzelt auf der Stelle stehen. Gabriel? War das sein Name? Und Vincenzo?
Etwas in seinem Innern schien sich durch die beiden Namen in Bewegung zu setzen. Auf einmal hatte er wieder einen blassen, italienischen Jungen vor sich, dem er beibringen sollte, über Mauern zu klettern und von Haus zu Haus zu springen. Dies war einer seiner Freunde!
Vincenzo starrte ihn noch eine Weile an, dann kam er zu ihm gelaufen und schlang seine Arme um ihn.
»Gabriel! Alter Freund, wir wo warst du nur so lange?«
Der Wanderer sah den blonden Mann verwirrt an. »Ich … Ich bin aus dem Wasser gekommen«, antwortete er ihm in der Sprache, in der er ihn angesprochen hatte. So lange hatte er sie nicht mehr gehört, doch er wusste, dass man sie Arabisch nannte. Und ohne nachzudenken, flossen die Worte aus seinem Mund. »Ich weiß nicht mehr, wer ich bin, aber ich weiß, dass ich einst Freunde hatte und …«
»Du hattest nicht nur Freunde!«, entgegnete Vincenzo, den Tränen nahe. »Du hast Brüder! Wir sind deine Brüder. Ich und die anderen.«
Für einen Moment wusste der Wanderer nicht, was er sagen sollte. Konnte es sein, dass er wirklich jene Menschen gefunden hatte, zu denen er gehörte?
»Mein Name ist also Gabriel?«, fragte er unsicher nach.
»Jedenfalls hat deine Mutter dich so genannt, so viel steht fest!« Vincenzo konnte die Tränen nicht mehr aufhalten. War es seinem Freund wirklich so schlecht ergangen? Was hatte das Meer nur mit ihm angestellt, dass er nicht einmal mehr seinen eigenen Namen wusste?
»Komm, lass uns zu unserer Unterkunft reiten. Wir haben ein neues Dorf in der Nähe errichtet. Es wird dir dort gefallen.« Vincenzo zog Gabriel mit sich zu seinem Pferd, dann ritten sie los.
Das Dorf tauchte nicht einmal eine halbe Stunde später vor ihnen auf. Die Schornsteine rauchten, Kinder wuselten zwischen den Häusern umher. Ein wenig erinnerte es Gabriel an das Dorf, in dem er mit Silvana zusammengelebt hatte. Der schmerzhafte Stich, den er bei diesem Gedanken empfand, verschwand, als Vincenzo sein Pferd auf einem kleinen Platz zum Stehen brachte.
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