Das Herz der Kriegerin
Sie blickte hinüber zu den Verhandlungsparteien, die sich noch immer auf der Brücke gegenüberstanden.
Ebenso wie ich verstanden auch Sayd und die anderen ihren Blick genau.
»Um zu der Brücke zu gelangen, musst du an uns vorbei«, sagte Sayd, während er begann, seine Arme zu lockern. Nicht dass er das nötig gehabt hätte, selbst aus dem Schlaf konnte er pfeilschnell angreifen. Doch Aisha Qandisha sollte sehen, dass es ihm ernst war.
Einen Augenblick noch verharrten die Dschinn bei ihrer Herrin, dann stürmten sie auf uns zu.
Die bewährte Methode, den Dschinn ins Auge zu stechen, wirkte auch diesmal sehr gut. Während die Dschinn um uns herumflirrten, hielt sich Aisha im Hintergrund.
Viel Zeit, sie zu beobachten, blieb mir nicht, denn ich hatte zu tun, den aus dem Rauch hervorschießenden Dolchen auszuweichen. So schnell wie möglich stach ich nach ihren Augen, traf, wandte mich dann dem nächsten zu. Dschinn um Dschinn fiel als runzliger Leichnam auf den Boden, sodass ich Mühe hatte, nicht über sie zu stolpern. Woher hatte Aisha so viele Gefolgsleute? Waren das alles Männer von den Schlachtfeldern?
Bevor ich mich den nächsten beiden Dschinn entgegenwarf, beobachtete ich, dass Sayd und David beinahe vollständig im Rauch untergingen. Waren sie in Schwierigkeiten? Belemoth hielt seine Gegner recht gut in Schach. Und Aisha? Die thronte als schwarze Wolke über uns und schien sich über unseren Kampf köstlich zu amüsieren.
Doch plötzlich geschah etwas, das ich mir zunächst nicht erklären konnte. Die Dschinn traten den Rückzug an! Ihre Rauchgestalten annehmend, scharten sie sich wieder um ihre Königin. Gemeinsam, wie eine davonziehende Gewitterwolke, erhoben sie sich aus unserer Reichweite,
Kaum hatten sich die Dschinn zurückgezogen, ertönte von der Brücke her ein Schrei. Entsetzt liefen die Zuschauer auseinander, Wächter setzten einem Mann nach, der von der Brücke floh.
Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag in den Magen. Wahrscheinlich hatte die Dschinnkönigin den Dauphin beeinflusst und für ihre Zwecke eingesetzt – daher der Hochmut, er hatte sich im Bündnis mit einflussreichen Mächten gewähnt!
Sayd, der denselben Gedanken zu haben schien, wirbelte herum und eilte zur Brücke. Wir folgten ihm auf dem Fuße, denn wenn Sayd wütend war, konnte alles Mögliche geschehen.
Inzwischen kam es zu einem kurzen Kampf zwischen den Burgundern und den Armagnacs, der aufgrund der Unterlegenheit von Johanns Anhängern in deren Flucht endete. Seine Gefolgsleute verschwanden so rasch, dass sie nicht einmal den Leichnam ihres Herrn mitnahmen. Blutüberströmt und zusammengekrümmt lag der Mann, dessen Schutz wir uns verschrieben hatten, auf dem Boden.
Es hatte in den vergangenen Jahren Momente gegeben, in denen ich Johann gewünscht hätte, im Kampf zu fallen, damit das Ungeheuer Krieg endlich Ruhe gab. Abgeschlachtet zu werden wie ein Hund, war jedoch ein Schicksal, das ich niemandem wünschte, selbst ihm nicht, der so viele Menschenleben auf dem Gewissen hatte.
Sayd war außer sich vor Zorn. Glücklicherweise erkannten wir, was er vorhatte. Belemoth und Vincenzo überholten ihn, noch bevor er die Brücke erreichen konnte, und stellten sich ihm blitzschnell in den Weg.
»Dieser dreimal verfluchte Sohn einer Hündin!«, schimpfte er auf Arabisch, während er sich gegen seine Freunde warf. David hätte er vielleicht noch wegstoßen können, aber gegen Belemoths Masse kam er nicht an. Dennoch tobte er und versuchte, sich loszureißen.
»Sayd!«, rief ich, ohne zu ihm durchzudringen. Sein Toben überraschte und erschreckte mich, immerhin war er stets besonnen und ruhig geblieben. Gab es Seiten an ihm, die wir noch nicht kannten?
Erst als ich meinen Arm von hinten um seinen Brustkorb schlang und ihn festhielt, ließ seine Gegenwehr etwas nach. »Sayd, du kannst nichts mehr tun. Ziehen wir uns zurück.«
Doch daran schien er nicht zu denken. Unverwandt blickte er zur Brücke und ich wusste, dass es ihn keine Mühe kostete, aus dieser Entfernung die Gesichter der Orléans-Anhänger auszumachen. Wahrscheinlich suchte er nach dem Mörder, doch konnte er ihn in diesem Gewirr ausmachen?
»Es war Tanneguy du Chastel«, raunte er schließlich, als der Widerstand seines Körpers erlahmte. »Ich habe das Messer in seiner Hand gesehen.«
Diese Nachricht erschreckte mich. Sollte es möglich sein, dass der Mann, den wir für unseren Verbündeten gehalten hatten, uns so schrecklich hinters Licht geführt
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