Das Herz der Nacht
wahrgenommen hatte. Kein Zweifel, die Kritik einiger fortschrittlicher Bürger an den Zuständen in diesem alten Gemäuer hatte durchaus ihre Berechtigung, und András zweifelte nicht, dass das Gefangenenhaus die Brutstätte mancher Seuche war, die dann zuweilen von hier auf die Stadt übergriff. Bei der großen Choleraepidemie zehn Jahre zuvor war die Zahl der Opfer im »Hotel Stern« jedenfalls besonders groß gewesen.
András ließ die überfüllten Gefangenenräume hinter sich und stieg zu den kleineren Zellen eine Treppe höher. Etwas drang schwach in seine Nase, das ihn beunruhigte, doch er konnte es in der Flut der Gerüche nicht genau zuordnen. Er runzelte die Stirn und grübelte über die Witterung nach, während er eine Tür nach der anderen passierte. Zwei der Räume waren Wachleuten vorbehalten, aber nur in einem döste ein Beamter vor sich hin.
András war so in Gedanken, dass er den Geruch fast verpasst hätte. Abrupt blieb er stehen, ging wieder zwei Schritte zurück und witterte durch das Gitter.
Kein Zweifel. Er konnte sein Glück nicht fassen. Da drin saß der Einbrecher, der aus seinem Haus die Messer entwendet und eine Nacht später die Nachricht hinterlassen hatte. Nun würde er gleich wissen, ob er es aus eigenem Antrieb getan und ob er auch den Mord auf dem Gewissen hatte, von dem das Blut auf der Klinge sprach! Diesen und noch weitere?
Warum sie ihn hier wohl allein festhielten? Auch das war es wert zu klären. War das überhaupt eine Gefängniszelle? András spähte hinein. Es kam ihm eher wie ein Verhörraum vor.
Plötzlich näherte sich der Gefangene der Tür und schlug mit den Fäusten dagegen. »Verdammt! Wie lange soll ich hier noch ohne ein Bett und was zu essen warten? Geht das Verhör nun endlich weiter, oder habt ihr verfluchten Greifer mich vergessen? Hallo! Ich rede mit euch! Kommt jetzt einer und bringt mir wenigstens was zu trinken? Ich verdurste!« Wieder trommelte er gegen die Tür, dass es durch das ganze Haus schallte.
András zog sich unauffällig ein Stück zurück und wartete, ob es eine Reaktion von Seiten des Wachpersonals geben würde. Wenn sie nicht reagierten, dann ganz bestimmt nicht, weil sie die Proteste nicht hörten. Nein, er vermutete eher, dass dies eine Taktik des verhörenden Kommissärs war, den Burschen dort drin weichzukochen.
Gerade kam András zu dem Schluss, dass man beschlossen hatte, die Proteste zu überhören, als er Schritte auf der Treppe vernahm. Es waren allerdings nicht die schweren Stiefel der Wärter. Wer konnte das sein? Kam der Kommissär mitten in der Nacht zurück, um das Verhör fortzusetzen? Wie ungewöhnlich.
Als der Mann in den Gang einbog, korrigierte András seine Vermutung. Nein, das konnte kein Kommissär sein. Ein Gefangenenwärter war es aber auch nicht. Der Mann strahlte eine seltsame Aura aus, die ihm unangenehm war. Neugierig trat András näher, sobald der Mann an das Fenster der Zelle getreten war, um zu hören, ob er mit seinem Verdacht richtig lag.
»Sie sind nicht Kommissär Hofbauer«, stellte der Gefangene missmutig fest. »Und auch nicht dieser Einfaltspinsel Schobermeier. Gehören Sie überhaupt zu den Männern des Kommissärs?«
Der Besucher verneinte. »Mein Name ist Philipp Jakob Münnich, und ich bin der kaiserlich-königliche Seelsorger des Strafhauses.«
»Sie schicken mir einen Pfaffen«, beschwerte sich Jakob Grossler. »Was soll das? Lassen wir den Prozess und das Urteil dieses Mal aus, und Sie begleiten mich gleich auf meinem Henkerskarren zur Spinnerin hinaus? Ist das die berühmte Wiener Gerechtigkeit?«
»Aber nein«, protestierte der Seelsorger. »Solche Missstände müssen Sie hier nicht fürchten.«
»Was wollen Sie dann von mir? Dass ich Ihnen beichte und Sie dann stolz dem Kommissär ein Geständnis präsentieren? Ne, nicht mit mir. So dumm bin ich nicht!«
Der Gefängnisseelsorger war anscheinend nicht so leicht aus der Fassung zu bringen. Seine Stimme verriet nichts davon, dass Grossler ihn vielleicht gekränkt haben mochte. »Wenn Sie das Bedürfnis haben, vor Gott die Beichte abzulegen, dann geht das nur Sie selbst und Gott etwas an. Ich bin lediglich der Mittler und kein Spitzel der Kriminalpolizei.«
Der Gefangene war nicht überzeugt, wollte aber offensichtlich auch nicht die Gelegenheit ungenutzt vorübergehen lassen, sich seine Haft ein wenig zu erleichtern.
»Wenn Sie in Ihrer christlichen Güte mir etwas zu essen und zu trinken besorgen könnten, dann wäre ich durchaus in
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