Das Herz der Nacht
Nase. Aber wo sollte er mit seiner Suche anfangen? Er streifte durch die Nacht und stillte seine erste Gier an einem Fiaker, der dösend auf seinem Kutschbock saß. Die beiden Braunen rührten sich nicht vom Fleck. András tätschelte ihnen die Mähnen, ehe er seinen Weg fortsetzte.
Bald erreichte er den Hohen Markt, das Zentrum der Wiener Gerichtsbarkeit. Hier hatte schon im Mittelalter das alte Gerichtsgebäude, die Schranne, gestanden. Unter Joseph II . war sie vergrößert und um einige Kerker für Schwerverbrecher erweitert worden. Davor am Fischbrunnhäuschen, aus dem die Fischhändler gegen eine Gebühr hatten Wasser schöpfen können, gab es einst einen kleinen käfigartigen Anbau, das Narrenköterl, in das man in den vergangenen Jahrhunderten Gotteslästerer, Dirnen, Zauberer und Ruhestörer gesperrt und dem öffentlichen Spott preisgegeben hatte. Später wurde an seiner Stelle die Schandsäule errichtet. Auch heute gab es an der Schranne noch immer eine Schandbühne, und es war durchaus üblich, die Verurteilten hier dem Volk zu präsentieren und ihr Urteil öffentlich zu verlesen.
Doch das Mittelalter war längst zu Ende, und so schienen auch die Tage der alten Schranne nahe dem Rathaus gezählt. Schon vor einigen Jahren hatte man begonnen, draußen auf dem Alsergrund an Stelle der bürgerlichen Schießstände ein Gerichtsgebäude zu bauen. Nun war es fertig. Dem Umzug der Richter stand nichts mehr im Wege. Und auch die Gefangenen wurden längst nicht mehr in den Kerkerräumen der Schranne oder den Stadttürmen untergebracht. Dafür gab es das Polizeigefangenenhaus in der Sterngasse, dessen hohe Mauer András gerade passierte.
Er stutze und blieb abrupt stehen. Gehörte dieser Hauch nicht zu seinem nächtlichen Einbrecher? Er schritt aufmerksam an der Mauer entlang bis zum Tor und dann weiter, ohne den Wächtern einen Blick zu gönnen.
Ja, das war der Geruch, den er suchte. Hatte die Polizei etwa ausnahmsweise schnelle Arbeit geleistet und den Einbrecher bereits gefasst? Das würde er herausfinden!
Da András nicht vorhatte, das Gefangenenhaus durch den Haupteingang zu betreten, bog er in die Vorlaufgasse ein und dann in den Salzgries, der ihn auf die Rückseite des ehemaligen Klosters führte. Die Mauern waren hoch und glatt, für den Vampir stellten sie jedoch kein ernstzunehmendes Hindernis dar. Geräuschlos ließ er sich in den Hof hinabfallen, der zu dieser Stunde menschenleer war. Wohin nun? Er ließ den Blick über die vermauerten Bögen des alten Kreuzganges gleiten.
Eine Tür öffnete sich, und zwei Gefängniswärter traten in den Hof. András blieb mit dem Rücken an der Außenmauer bewegungslos stehen. Er fürchtete nicht, entdeckt zu werden. Wenn er keine Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte, dann würden die beiden Männer ihn in diesem düsteren Licht auch nicht bemerken. Noch dazu, da sie in ein Gespräch vertieft waren und ihre Wachsamkeit zu wünschen übrig ließ. Ohne Eile querten sie den Hof und verschwanden in dem Gebäudeteil, in dem die Wachstube untergebracht war.
András wartete, bis sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, ehe er den Teil betrat, in dem die männlichen Gefangenen untergebracht waren. Die unterirdischen Kellerzellen waren klein und beherbergten Mörder und Totschläger, allein oder zu zweit. In den oberen viel größeren Gefangenenräumen waren Gruppen bis zu zwölf oder mehr untergebracht, wenn das Gefängnis entsprechend gut belegt war. Und das war es meist.
Unter den männlichen Gefangenen gab es alles, was man sich an Verstößen gegen das Gesetz vorstellen konnte, wobei Einbruch und Diebstahl überwogen. Oft führten Not oder Gier die Täter aber auch zu einem Raub, bei dem das Opfer zu Schaden kam.
Bei den Frauen auf der anderen Seite des Hofs sah es nicht viel anders aus. Obwohl es dort nicht so viele gab, die der Schwere ihres Verbrechens wegen ein Todesurteil zu erwarten hatten. Die Frauen hier waren Diebinnen, Betrügerinnen, Dirnen oder Falschspielerinnen. Es gab aber auch eine ganze Anzahl Bettlerinnen ohne eine Wohnstatt, die immer mal wieder für einige Tage oder Wochen festgesetzt wurden.
András schritt langsam an den verschlossenen Türen mit dem Gitterfenster vorbei und nahm die Gerüche in sich auf. Es war nicht einfach, bei dem durchdringenden Gestank dieser vielen Menschen, die kaum jemals ein Bad genossen oder die Kleider wechselten, den Geruch eines Einzelnen herauszufiltern, von dem er nur die schwachen Spuren in seinem Haus
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