Das Herz des Bösen: Roman (German Edition)
und hätten Valerie mit der Wucht ihrer beiläufigen Geringschätzung beinahe umgeworfen.
»Du bist nicht mal angezogen«, stotterte sie. »Dein Vater …«
»… kommt sowieso zu spät«, sagte ihre Tochter mit der unverschämten Gewissheit, über die offenbar nur sechzehnjährige Mädchen verfügen. »Er kommt immer zu spät.«
»Es ist eine lange Fahrt«, wandte Valerie ein. »Er hat gesagt, er wollte vor dem Abendessen dort sein.«
Aber Brianne war schon vom oberen Treppenabsatz verschwunden. Kurz darauf hörte Valerie die Zimmertür ihrer Tochter zuknallen. »Sie ist noch nicht einmal angezogen«, flüsterte sie an die elfenbeinfarbenen Wände gewandt. Wahrscheinlich hatte sie auch noch nicht einmal angefangen zu packen. »Na super. Super.« Das bedeutete, sie würde ihren zukünftigen Exmann und seine neue Verlobte unterhalten müssen, bis ihre Tochter fertig war. Aber das war vielleicht gar nicht so schlecht, dachte sie, zumal Evan in letzter Zeit angedeutet hatte, dass es mit der liebsten Jennifer nicht so gut lief und es vielleicht der größte Fehler seines Lebens gewesen sei, Valerie zu verlassen.
Es wäre nicht das erste Mal, dass er diesen speziellen Fehler machte, dachte Val, öffnete die Haustür ihres modernen, großzügig verglasten Backsteinhauses in Park Slope und ließ den Blick auf der Suche nach Evans Wagen in beide Richtungen über die schicke Brooklyner Straße schweifen. Er hatte sie schon einmal verlassen und war nur Tage vor ihrer Hochzeit mit einer der Brautjungfern durchgebrannt. Sechs Wochen später war er wieder da gewesen und hatte sie voller unterwürfiger Entschuldigungen angefleht, ihm noch eine Chance zu geben. Das Mädchen habe ihm nichts bedeutet, hatte er beteuert. »So dumm werde ich nie wieder sein«, hatte er geschworen.
Aber das war er natürlich doch.
»Du bist alles, was ich je brauche«, hatte er ihr erklärt.
Aber das war sie natürlich nicht.
In ihren achtzehn gemeinsamen Jahren hatte Val ihn mindestens eines Dutzends Affären verdächtigt und jedes Mal beide Augen fest zugedrückt. Irgendwie war es ihr gelungen, sich selbst einzureden, dass er die Wahrheit sagte, wenn er anrief, um ihr mitzuteilen, dass er Überstunden machen oder wegen eines dringenden Meetings ein verabredetes Mittagessen absagen musste. Besorgten Freunden, die Evan in einem beliebten Manhattaner Restaurant am Hals einer attraktiven Brünetten hatten knabbern sehen, versicherte sie sogar, dass es keine große Sache sei. Ihr kennt doch Evan, sagte sie mit einem selbstbewussten Lachen. Er flirtet halt gerne. Es hat nichts zu bedeuten.
Sie hatte es so oft gesagt, dass sie es beinahe selbst geglaubt hatte.
Beinahe.
Und dann war sie, nachdem sie sich den ganzen Tag um ihre Mutter gekümmert hatte, eines Nachmittags müde und deprimiert nach Hause gekommen und hatte ihn mit der jungen Frau im Bett erwischt, die er kurz zuvor engagiert hatte, damit sie eine neue Werbekampagne für seine Hotelkette entwarf. Ihre muskulösen und wohlgeformten Beine waren hoch in die Luft und über seine breiten Schultern gestreckt, beide waren vollkommen vertieft in ihre beeindruckende Gymnastik, und Val war endgültig gezwungen, ihre fest zugedrückten Augen zu öffnen.
Sogar dann noch war es seine Entscheidung gewesen auszuziehen.
Ich sollte ihn hassen, dachte sie.
Aber die schreckliche, unverzeihliche Wahrheit war, dass sie ihn nicht hasste. Die schreckliche und noch unverzeihlichere Wahrheit war, dass sie ihn immer noch liebte und betete, er möge wieder zur Vernunft kommen wie damals, als er wenige Tage vor ihrer Hochzeit abgehauen und zu ihr zurückgekehrt war.
Was ist bloß los mit mir?
Es war ihre eigene verdammte Schuld. Sie hatte gewusst, wie er war, als sie ihn heiratete. Vom ersten Moment an, als sie ihn in der Lobby des kleinen Chalets in der Schweiz erblickte, hatte sie gewusst, dass er sie ins Unglück stürzen würde. Sonnengebräunt und fit und umringt von bewundernden Skihäschen hatte er damals vor einem prasselnden Feuer Hof gehalten. Genau der Typ Mann, den sie in den einundzwanzig Jahren bis zu diesem Moment zu meiden gesucht hatte, ein Mann von großen Gesten und kleinen Grausamkeiten, ebenso charmant wie unverfroren. Sie kannte den Typ gut, weil sie von genau so einem Mann aufgezogen worden war.
»Es hat nichts zu bedeuten«, hatte sie ihren Freundinnen erklärt, die gleichen Worte, die ihre Mutter zu ihr gesagt hatte.
Nun, vielleicht bedeutete es für Männer wie ihren Vater und
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