Das Herz des Bösen: Roman (German Edition)
verklingenden Lärm der Stadt, bis er in den Bergen ganz verstummte und man nur noch den Gesang der Vögel und das Plätschern von kleinen Bächen in der Nähe hörte. Je mehr Zeit sie dort verbrachten, desto weniger verlockend wurde der Gedanke, die Hütte abzugeben, bis sie am Ende stattdessen das Haus in White Plains verkauft hatten und vor zwei Jahren ganz hierhergezogen waren. Ihr Sohn Ben hatte dringend davon abgeraten. Aber Ben, ein Anwalt, hatte seine zweite Frau, ebenfalls Anwältin, wegen einer russischen Pole-Dancerin verlassen, die er in einer Striptease-Bar namens Cheaters kennengelernt hatte, was nicht unbedingt für sein Urteilsvermögen sprach. »Was wollt ihr machen, wenn es einen Notfall gibt?«, hatte er gefragt.
»Wir haben ein Telefon und einen Computer«, hatte Ellen ihn erinnert. »Es ist schließlich nicht so, als ob wir fern jeder Zivilisation wären.«
»Es ist eine blöde Idee«, hatte Ben entgegnet, obwohl er die Hütte nie mit eigenen Augen gesehen hatte. »Schon der Name ist mir irgendwie unheimlich«, hatte er gesagt und schaudernd hinzugefügt: »Shadow Creek«. Schattenfluss wurde der kleine Bach genannt, der hinter der alten Blockhütte floss. »Außerdem hasst Katarina Moskitos.«
»Im Gegensatz zu uns anderen, die Moskitos lieben«, murmelte Ellen jetzt. Denn es gab hier draußen tatsächlich jede Menge Fliegen. Vor allem jetzt im Juli. Und Spinnen. Und Schlangen. Und Kojoten. Sogar Bären, dachte sie, obwohl sie bisher noch keinen zu Gesicht bekommen hatte. Die aufdringlichste aller Plagen in den Adirondacks waren jedoch die Touristen, die in den Sommermonaten scharenweise ausschwärmten. Viele von ihnen verirrten sich auf den nahe gelegenen Wanderwegen im Wald, einige klopften sogar an ihre Tür und baten darum, ihre Toilette benutzen zu dürfen. Wenn Ellen an der Tür war, wies sie sie freundlich ab. Stuart mit seinem viel zu weichen Herzen ließ sie manchmal herein.
»Hast du was gesagt?«, fragte er jetzt.
»Was? Oh, nein. Ich hab wohl nur laut gedacht.«
»Was denn?«
»Ich hab mich bloß gefragt, wie lange dieser Sturm noch dauert«, sagte Ellen. Sie wollte keine Diskussion über Ben und seine jüngste Gespielin beginnen, weil das Thema unweigerlich in einer Debatte über ihr Versagen als Eltern endete. Ja, es stimmte, ein Sohn war Arzt geworden, der andere Anwalt, also hatten sie wohl irgendwas richtig gemacht. Aber ebenso offensichtlich hatten sie auch etwas falsch gemacht, obwohl nicht ganz klar war, was das sein könnte. Ellen hatte schon viel zu viel Zeit damit vergeudet, es zu ergründen. Kinder kamen ohne Gebrauchsanweisung, hatte sie einmal gelesen, und Stuart und sie hatten bestimmt ihr Bestes gegeben, so gut sie es eben wussten und konnten.
Tatsache war jedoch auch, dass sie und Stuart schon immer in ihrem eigenen kleinen Kokon gelebt und außer einander im Grunde nie wirklich einen anderen Menschen gebraucht hatten, gestand sie sich ein. Was in Bezug auf ihre Söhne auch immer ein wunder Punkt gewesen war. Trotzdem erklärte das nicht, warum keiner von beiden in der Lage war, eine dauerhafte Beziehung zu führen. Wenn die fast ein halbes Jahrhundert währende Ehe ihrer Eltern nicht Vorbild genug für sie war, wusste Ellen nicht, was es sonst hätte sein können. Außerdem, was geschehen war, war geschehen, und nun war es zu spät, noch etwas daran zu ändern.
Oder nicht?
Ellen ging durchs Wohnzimmer in die Küche und nahm das kabellose schwarze Telefon. »Ich rufe Ben an«, sagte sie, bevor ihr Mann fragen konnte.
Er nickte, als wäre er nicht überrascht, und schürte weiter das Feuer. Das wohlige Aroma brennenden Zedernholzes erfüllte den großen Raum mit der offenen, hellen Küche. Auf der Rückseite der Hütte gab es drei Schlafzimmer und ein Bad. Die Betten in den beiden Gästezimmern waren noch unbenutzt, obwohl die McQuakers versprochen hatten, am Wochenende zu kommen, ein Besuch, auf den Ellen sich sehr freute.
Sie wählte die Telefonnummer ihres jüngeres Sohnes und wartete, während es ein, zwei, drei Mal klingelte.
»Hallo?«, meldete sich eine Frauenstimme, deren starker Akzent selbst dieses schlichte Wort einfärbte.
»Hallo, Katarina«, sagte Ellen fröhlich. »Hier ist …«
»Wer spricht da?«, unterbrach Katarina sie.
»Hier ist Ellen. Bens Mutter.«
»Tut mir leid. Verbindung ist sehr schlecht. Bitte rufen Sie später an.«
Erst nach ein paar Sekunden begriff Ellen, dass Katarina sie abgehängt hatte. »Ich glaube, die
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