Das Herz des Bösen: Roman (German Edition)
an ihr. Das übrige Gesicht war ziemlich unscheinbar, die Nase lang, die Lippen schmal. Aber tropfnass war es auch schwer, wie aus dem Ei gepellt auszusehen, dachte Ellen und entschied, dass sie wieder einmal zu kritisch war. Genau das hatten ihr ihre Söhne bei Gelegenheit vorgeworfen. Sie nahm sich vor, freundlicher zu sein. »Ich bringe Ihnen ein Handtuch«, bot sie an und holte ein flauschiges weißes Badetuch aus dem Bad.
Das Mädchen hatte es sich bereits auf dem Sofa bequem gemacht, die nackten Füße unter die Schenkel gezogen, die nassen Sandalen vor sich auf dem Boden, daneben die Stofftasche. Stuart saß ihr in dem dunkelblauen Samtsessel gegenüber, seine gütigen Augen strahlten großväterliche Sorge aus. Er war immer der Nettere von ihnen beiden gewesen, dachte Ellen und merkte, wie sehr sie sich in ihren fünfzig gemeinsamen Jahren darauf verlassen hatte, dass er ihre harten Kanten gegenüber anderen glättete.
»Das ist ein wunderschönes Haus«, sagte das Mädchen, zog ihre Füße wieder auf den Boden und nahm das Handtuch, das Ellen ihr hinhielt. »Sie haben es wirklich sehr nett eingerichtet. Ich liebe den Kamin.« Sie begann, mit dem Handtuch die Spitzen ihres feuchten Haars abzurubbeln. »Vielen Dank.«
Ellen bemühte sich zu übersehen, dass die dreckigen Füße des Mädchens ihr Sofa beschmutzten und dass sie unter ihrem knappen T-Shirt keinen BH trug. Du bist bloß eine eifersüchtige alte Frau, ermahnte sie sich und erinnerte sich an die Zeit, als sie selbst noch volle, feste Brüste gehabt hatte. »Ich bin Ellen Laufer«, zwang sie sich, sich vorzustellen. Wenn sie netter zu Katarina und all den anderen Frauen ihrer Söhne gewesen wäre, hätte sie heute vielleicht eine bessere Beziehung zu ihren Enkeln, dachte sie unwillkürlich. »Das ist mein Mann Stuart.«
»Nennen Sie mich Nikki«, sagte das Mädchen und trocknete sich weiter lächelnd das Haar. »Mit zwei K. Der Name gefällt mir. Was meinen Sie? Sie haben nicht zufällig einen Fön, oder?«
»Nein, tut mir leid«, log Ellen. Dem Mädchen ein Handtuch und eine Tasse Tee anzubieten, war eine Sache, aber genug war genug. Und was meinte sie mit »Nennen Sie mich Nikki«? War das nun ihr Name oder nicht?
»Das heißt, Ihr Haar ist von Natur aus so lockig? Das ist fantastisch.«
»Danke.« Ellen fasste sich an ihr blondes Haar, das sie am Morgen eine ganze Stunde mit dem Curlingstab bearbeitet hatte, und fühlte sich sofort schuldig. Ich hätte sie meinen Fön benutzen lassen sollen, dachte sie. Was war mit ihr los?
»Hat das Wasser jetzt bald gekocht?«, fragte Nikki.
»Oh. Ja, ich glaube schon.« Ellen ging wieder in die Küche. Die Kleine war jedenfalls nicht zu schüchtern, danach zu fragen, was sie wollte, dachte sie, nahm einen Becher aus dem Kieferholzschrank und kramte in einem anderen Schrank nach Teebeuteln. Sie fragte sich, wie lange sie die Gastgeber für das Mädchen spielen mussten, das kaum älter als sechzehn sein konnte. Wo war bloß ihre Mutter, Himmel noch mal? Was hatte sie sich dabei gedacht, ihrer Tochter zu erlauben, mit einem jungen Mann in den Adirondack Mountains zu zelten, der offenbar nicht genug Verstand hatte, bei diesem Regen ins Trockene zu fliehen? »Was hätten Sie lieber, English Breakfast oder Red Rose? Ich habe beide.«
»Haben Sie auch Früchtetee?«, fragte Nikki.
Ellen spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte. »Ja, schon. Preiselbeere oder Pfirsich. Das ist meine Lieblingssorte.«
Das Mädchen zuckte die Achseln. »Okay.«
Ellen hängte einen Teebeutel in den Becher mit heißem Wasser und bemerkte besorgt, dass die Packung zur Neige ging. Ihre Mutter wäre ohnehin entsetzt gewesen. Wie oft hatte sie erklärt, dass man für einen guten Tee lose Blätter fünf Minuten in der Kanne ziehen lassen musste? Aber ihre Mutter war schon lang tot, dachte sie wieder, und die Zeiten änderten sich.
Zwanzig Jahre, wiederholte Ellen stumm, und der Gedanke kroch ihr unter die Haut und breitete sich aus, wie der dunkle Tee in dem heißen Wasser. War das wirklich schon so lange her?
»Warum braucht der Tee so lange?«, fragte Stuart und riss Ellen jäh in die Gegenwart zurück. »Das arme Mädchen fängt schon an, mit den Zähnen zu klappern.«
»Kann ich Milch dazu haben?«, fragte Nikki.
»Zu Früchtetee? Ich glaube, das ist wirklich nicht nötig …«
»Ich mag ihn lieber mit Milch. Magermilch, wenn Sie haben.«
»Ich fürchte, wir haben nur entrahmte.«
»Oh.« Ein erneutes Achselzucken.
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