Das Herz des Bösen: Roman (German Edition)
»Okay. Und vier Löffel Zucker.«
Ellen gab gehorsam einen Schuss Milch und vier Löffel Zucker in den ohnehin süßen Tee, trug ihn ins Wohnzimmer und gab Nikki den robusten blauen Becher. »Vorsicht«, warnte sie. »Er ist heiß.« Sie setzte sich in den rot-beigen Polstersessel neben ihrem Mann und beobachtete, wie das Mädchen den Becher behutsam an die Lippen führte.
»Das sagt meine Großmutter auch immer.« Nikki trank erst einen und dann noch einen Schluck.
»Klingt so, als wäre Ihre Großmutter eine sehr weise Frau.«
»Sie ist eine Hexe«, sagte Nikki. »Haben Sie Kekse oder irgendwas?«
Was soll das heißen, sie ist eine Hexe, wollte Ellen fragen.
»Bestimmt.« Stuart sprang auf, bevor Ellen den Gedanken laut aussprechen konnte.
»Tut mir leid, dass ich eine solche Plage bin«, sagte Nikki, »aber ich habe seit heute Mittag nichts mehr gegessen, und ich sterbe vor Hunger.«
»Nun, dann finden wir bestimmt was Besseres als Kekse«, sagte Stuart. »Wir haben im Kühlschrank doch noch was von dem Roastbeef, oder Ellen?«
»Ich glaube schon«, sagte Ellen, obwohl sie dachte, dass sie das Fleisch eigentlich für ihr Mittagessen morgen eingeplant hatte. Nun musste sie am Vormittag nach Bolton Landing fahren, um Neues zu kaufen. Vorausgesetzt, bis dahin hatte es aufgehört zu regnen. Und wie lange wollte dieses Mädchen, das so respektlos von ihrer Großmutter sprach, überhaupt bleiben? Ja, natürlich konnten sie sie schlecht wieder in den Sturm rausschicken, antwortete sie Stuart stumm, obwohl der kein Wort gesagt hatte. Aber was, wenn es die ganze Nacht regnete? Was, wenn es tagelang nicht aufklarte? »Vielleicht sollten Sie versuchen, Ihre Eltern anzurufen«, schlug Ellen Nikki vor. Das Mädchen hatte doch bestimmt ein Handy in ihrer Tasche.
»Wozu?«
»Um ihnen zu sagen, dass Sie in Sicherheit sind. Und wo sie Sie abholen können«, fügte sie hinzu und strengte sich an, die Betonung nicht zu auffällig auf das Ende des Satzes zu legen.
Nikki schüttelte den Kopf. »Nee. Ich komme schon zurecht.«
»Wir haben Roastbeef und noch ein bisschen geräucherte Pute«, sagte Stuart, den Kopf halb im Kühlschrank.
»Ich bin eigentlich eher Vegetarierin«, informierte Nikki ihn.
Ellen musste sich auf beide Hände setzen, um dem undankbaren Mädchen nicht an die Gurgel zu gehen.
»Wie wär’s dann mit einem Sandwich mit überbackenem Käse?«, fragte Stuart freundlich, obwohl das leichte Zucken an seiner Schläfe erkennen ließ, dass auch er langsam die Geduld mit ihrem unerwarteten Gast verlor.
»Klingt gut«, sagte Nikki. »Ich nehme an, Sie bekommen nicht oft Besuch.«
»Nicht oft«, bestätigte Ellen. »Wir sind hier ein bisschen ab vom Schuss.«
»Wem sagen Sie das! Haben Sie keine Angst, ganz alleine hier draußen?«
»Es gibt ein paar Hütten in der Nähe«, sagte Stuart.
»Die sind aber ziemlich weit weg. Wo ist denn Ihr Fernseher?«, fragte Nikki plötzlich und ließ ihren Blick wieder durch den großen Raum wandern.
»Wir haben nie viel ferngesehen«, erklärte Ellen. Wahrscheinlich ein weiterer Grund, warum ihre Enkel wenig Neigung zeigten, sie zu besuchen.
»Wir haben ein Radio«, warf Stuart ein, nahm ein kleines Stück Cheddar aus dem Kühlschrank und zwei Scheiben Brot aus dem Kasten auf dem Tresen, die er mit Butter bestrich. »Und wir können uns die Sendungen auch auf dem Computer ansehen, wenn wir wirklich wollen.«
»Ich könnte nicht ohne Fernseher leben. Ich würde mich zu Tode langweilen«, sagte Nikki. »Und haben Sie eine Waffe?«
»Wozu sollten wir eine Waffe haben?«, fragte Stuart.
»Na ja, zu Ihrem Schutz.«
»Warum sollten wir Schutz brauchen?«
»Sie haben offensichtlich noch nichts von den Leuten gehört, die letzte Woche in den Berkshires ermordet worden sind«, erwiderte Nikki nüchtern.
Stuart ließ das Buttermesser fallen. Es prallte von dem Tresen ab, fiel auf den Boden und rutschte auf den glatten Holzdielen unter den Herd. »Was für Leute?«, fragten er und Ellen gleichzeitig mit sich überschlagenden Stimmen.
»Ein altes Ehepaar in den Berkshires«, sagte Nikki. »Sie wohnten allein, meilenweit vom nächsten Nachbarn entfernt. Genau wie Sie. Irgendjemand hat sie niedergemetzelt.«
Ellen merkte, dass sie den Atem anhielt.
»Regelrecht in Stücke gehackt«, fuhr Nikki fort. »Es war ziemlich übel. Die Polizei hat gesagt, die Hütte hätte ausgesehen wie ein Schlachthaus. Überall Blut. Es stand in allen Zeitungen. Haben Sie es nicht
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