Das Herz des Bösen: Roman (German Edition)
könnte.
An ihrem geheimen Ort.
Einem Ort voller Geheimnisse.
»Wir haben keine Geheimnisse«, hatte er ihr erklärt. »Nicht voreinander.« Und dann erzählte er ihr von den verschiedenen Ehen seiner Eltern und wie er nach einem besonders hässlichen Streit mit einem Messer auf seine Stiefmutter Nummer zwei losgegangen war und mit elf gut ein Jahr lang in eine psychiatrische Klinik für Erwachsene gesteckt worden war. Wie er in einer Station mit Psychotikern und Schizophrenen gelebt hatte, die alle viel älter waren als er, wie er von einem der Betreuer vergewaltigt worden war, einem Mann mittleren Alters mit ergrauendem Haar und einer Wampe, dessen Atem nach schwarzem Lakritz gerochen hatte, sodass er bis heute beim leisesten Hauch von schwarzem Lakritz würgen musste.
Er erzählte ihr, dass seine Mutter während seines Klinikaufenthaltes einen alten Knacker aus Texas geheiratet hatte und, ohne sich zu verabschieden, nach New York gezogen war, sodass er in die nicht unbedingt bereitwilligen Arme von Stiefmutter Nummer drei entlassen worden war, die zwei eigene Kinder hatte und ständig ihre Namen verwechselte. »Da ist mir klar geworden, wie unwichtig diese Dinge sind«, erklärte er ihr. »Nenn mich Daniel, nenn mich Frank, nenn mich Ismael. Es ist egal, wie du mich nennst. Es hat nichts damit zu tun, wer ich bin.«
Und wer bist du dann, hatte sie sich gefragt.
»Ich bin jeder«, hatte er geantwortet, bevor sie die Frage laut stellen konnte. »Ich bin jeder und niemand. Ich bin, wer immer ich entschieden habe zu sein. Wer bist du?«, wollte er wissen, starrte tief in ihre Augen und strich mit der Hand über ihren Hals. Seine Berührung sandte Stromstöße durch ihren ganzen Körper, sodass ihre Knie weich wurden und ihre Hände zitterten.
Sie konnte kaum atmen. »Ich weiß nicht«, flüsterte sie. »Ich weiß nicht, wer ich bin.«
»Du bist, wer immer du sein willst«, erklärte er feierlich.
»Wer immer ich sein will«, bekräftigte sie.
Dann hatte sie ihm von ihren Großeltern erzählt.
»Als ich ein kleines Mädchen war, hat meine Mutter mich jeden Samstagabend zu ihnen gebracht«, begann sie, »damit sie auf mich aufpassten, während sie mit meinem Vater ausging. Meine Großeltern hatten Freunde, mit denen sie immer Bridge gespielt haben, die Farellis. Mr Farelli sah für einen alten Mann ziemlich gut aus, aber seine Frau war echt hässlich und fett. Sie hatte ein großes Muttermal an der Oberlippe, aus dem immer ein paar Härchen sprossen. Kein schöner Anblick, das kann ich dir sagen. Jedenfalls«, fuhr sie lachend fort, »war ich ungefähr fünf oder sechs, als ich eines Samstagabends im Gästezimmer im Bett lag und hörte, wie sich meine Großeltern und die Farellis anbrüllten, was sie beim Bridge-Spielen immer taten. Als ich klein war, dachte ich ernsthaft, die Schreierei gehört zu dem Spiel dazu.« Sie lachte wieder. »Mrs Farelli hatte sich über eine Bemerkung meines Großvaters furchtbar aufgeregt und war ins Gästezimmer gekommen, um sich zu beruhigen. Sie setzte sich auf die Schlafcouch – ich bin nicht mal sicher, ob sie mich bemerkt hat – und fing an, vor sich hin zu quasseln. Und ich war völlig fasziniert von dem hässlichen Muttermal auf ihrer Oberlippe, das sich beim Reden auf und ab bewegte, sodass die Härchen mich anwedelten wie ein Hundeschwanz. Irgendwann habe ich dann plötzlich die Hand ausgestreckt und an einem gezogen. Ich hab das verdammte Härchen einfach ausgerupft und dabei das halbe Muttermal mitgerissen. Mrs Farelli schrie Zeter und Mordio, als ob ich sie vorsätzlich verstümmeln wollte oder so. Ich meine, ich war ein Kind, ja? Was wusste ich denn? Was hatte sie überhaupt in meinem Zimmer zu suchen? Und plötzlich waren alle in dem kleinen Raum, und dieses verdammte Muttermal blutete wie verrückt, und ich sah, wie das Blut über ihre Lippen in ihren Mund tropfte, der weit aufgerissen war, weil sie immer noch schrie, und war irgendwie fasziniert. Ich konnte den Blick einfach nicht abwenden. Alle haben auf mich eingebrüllt. ›Was ist mit dir los? Bist du blöd? Wie konntest du so etwas Schreckliches tun?‹ Und ich habe gesagt: ›Aber so sieht es besser aus. Es war hässlich.‹ Und meine Großmutter sagte: ›Für wen hältst du dich, du dummes Ding, dass du entscheiden kannst, was hässlich ist und was nicht?‹ Und dann hat sie mich aus dem Bett gezerrt, übers Knie gelegt und vor allen anderen verprügelt. Als Nächstes hat sie meine Eltern angerufen,
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