Das Herz des Loewen
nach dem Federkiel und neigte den Kopf über das Pergament. Sie musste eben geduldig abwarten, bis sich eine Gelegenheit bot, die Gemächer des Lairds aufzusuchen.
„An dieser Küste herrscht ein täuschend mildes Klima“, entgegnete Comyn. „Ganz in der Nähe erheben sich jedoch schroffe Berge, und auf den höchsten Gipfeln liegt sogar im Sommer Schnee. Oberhalb der Baumgrenze erstreckt sich trostloses Ödland, nur die Pässe sind dicht bewaldet. Eine unwirtliche Gegend ... Viele Reisende - und Eindringlinge fielen ihr schon zum Opfer.“
„Besten Dank für die Warnung.“ Nachdem Megan seine Warnung glücklicherweise verstanden hatte, wandte sich Ross wieder zu Comyn. Er ließ die Lagerhütte von zwei Männern bewachen, ein Dutzend suchte die Küste nach der Hawk ab, und zwei Krieger hielten vor dem Haus des Schmiedes Wache, falls Lucais nach Hause kam. Ansonsten konnte er vor dem Abendessen nichts unternehmen, und erhoffte, Eammon würde in die Halle hinunterkommen und lange genug hierbleiben, damit Wat genug Zeit fand, in den Turmgemächern nach Warenlisten oder anderen Papieren zu suchen. „Es reizt mich wirklich nicht, Euer wildes Hochland zu erforschen. Liegt Eure Burg irgendwo dort oben?“
Comyn schnaufte verächtlich. „Ein alter Turm auf einem kleinen Stück Land, das Eammon mir geschenkt hat“, knurrte er, sammelte die verstreuten Schachfiguren ein und stellte
sie auf das Brett.
Diese Bitterkeit erschien Ross verständlich. Auch er hatte als Zweitgeborener zunächst keine Aussicht auf ein reiches Erbe gehabt. Durch das grausame Schicksal seines Bruders würde er in den Besitz Carmichaels gelangen - ein Vorzug, auf den er nur zu gern verzichten würde, könnte er Lion dadurch wieder lebendig machen.
„Gebt Ihr mir Revanche?“, fragte Comyn, und Ross nickte. Obwohl der Highlander schon zweimal gegen ihn verloren hatte, spielte er recht gut Schach. Erst im letzten Augenblick waren die beiden Partien entschieden worden, weil Comyn letzten Endes die Geduld verlor und die langsame, bedächtige Spielweise seines Gegners irrtümlich für Dummheit hielt. Er ging in die Offensive, überschätzte sich selbst und tappte in die Falle, die Ross schon einige Züge vorher gestellt hatte.
Eine Schachpartie verrät sehr viel über den Charakter eines Mannes, dachte Ross. Zum Beispiel war Comyn viel komplizierter veranlagt, als man es zunächst vermutete, kühn und listenreich, aber ein ehrlicher Spieler. Je länger sie einander gegenübersaßen, desto weniger mochte Ross glauben, dass MacDonell mit den Strandräubern unter einer Decke steckte. Comyns kurze Temperamentsausbrüche, wann immer das Spiel nicht in seinem Sinne verlief, wiesen auf mühsam gezähmte Leidenschaften hin. Und Ross wusste die Kraft zu schätzen, die man aufbieten musste, um sich zu beherrschen, denn diese Fähigkeit hatte er selbst entwickelt.
Könnte doch auch Megan ihre Impulse besser kontrollieren, dachte er und warf ihr einen kurzen Blick zu. Sie neigte den Kopf immer noch über das Pergament, emsig kratzte der Federkiel. Zweifellos schreibt sie die Legenden ihres Clans nieder, dachte er. Welch ein albernes Unterfangen, Lügengeschichten festzuhalten, um die nächste Generation zu verderben ...
„Ihr seid ein härterer Gegner als Megan“, bemerkte Comyn und lenkte Ross’ Aufmerksamkeit wieder auf das Schachbrett.
„Schach ist ein ungewöhnliches Spiel für eine Frau.“ Aber Megan war in so mancher Hinsicht ungewöhnlich, was sich keineswegs nur nachteilig auswirkte.
„In ihrer Kindheit wurde sie sehr verwöhnt. Eammon erzog sie wie einen Sohn, den er sich lange Zeit vergeblich gewünscht hatte.“
„Wie ich gestehen muss, wollte ich dem Laird zunächst nicht begegnen. Aber seine fortgesetzte Abwesenheit erregt meine Neugier. Was glaubt Ihr, wird er zum Abendessen herunterkommen? “
Zögernd bewegte Comyn einen Turm über das Schachbrett, um seinen Gegenspieler herauszufordern. „Wer kann das schon sagen? Er ist ziemlich - unberechenbar geworden. Was wollt Ihr über ihn wissen?“
Ross zuckte die Achseln. „Nichts und alles. Meistens lohnt es sich, den Feind möglichst gut zu kennen.“
Allerdings, dachte Comyn und musterte Ross’ ausdrucksloses Gesicht. Was hatte Carmichael in der Lagerhütte gesehen? Die Höhle hinter dem Schrank? Die Wachtposten, die zu Archie geeilt waren, hatten berichtet, Ross und Megan seien nur kurz in der Hütte gewesen. Nichts habe sich darin verändert. Trotzdem konnte Comyn das
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