Das Herz des Loewen
verlockenden Mund und beschwor ein Lächeln herauf, das sofort wieder erlosch.
„Zuerst muss ich nach Siusan sehen. Schließlich bin ich deswegen hergekommen. “ Sie wandte sich ab, um seine enttäuschte Miene nicht sehen zu müssen, und zupfte an Britas Ärmel. „Wo ist meine Schwester?“
Unbehaglich senkte die alte Frau den Kopf. „Warte doch lieber bis morgen, wenn du ausgeruht bist und ...“
„Was ist geschehen?“, fiel Megan ihr erschrocken ins Wort. „Nun ja, sie ist noch am Leben ...“
„Oh Tante, ich muss sie unbedingt sehen.“
„Du hast ja noch gar nichts gegessen.“
„Jetzt bringe ich keinen Bissen mehr hinunter.“ Megan umklammerte ihr Bernsteinamulett und sprang auf. Widerstrebend führte Brita sie die Wendeltreppe hinauf, und Ross folgte seiner Gemahlin.
Offenbar hatte man sich bemüht, den Raum so gemütlich wie nur möglich zu gestalten. Im Kamin brannte ein Feuer, auf einer Truhe unterhalb des Fensters flackerten Kerzen. Weißes Heidekraut in einer Schale sollte Glück bringen.
Das alles nahm Megan kaum wahr. Sie hatte nur Augen für das Mädchen im großen, von einem Baldachin überwölbten Bett. Siusans Gesicht war fast so weiß wie der linnene Kissenbezug unter dem strähnigen blonden Haar. Der Körper, von einer Decke verhüllt, war sichtlich abgemagert, eine kleine Hand lag schlaff auf der Brust.
Mit einem Aufschrei rannte Megan zu ihrer Schwester. Durch einen Tränenschleier sah sie, wie Siusan langsam die Lider hob und sie mit glasigen, von violetten Schatten umgebenen Augen anstarrte. „Oh Siusan ...“
„Meggie?“ Die kranke junge Frau blinzelte und lächelte schwach. „Ich wusste ja, du würdest kommen ..." Die leise Stimme erstarb, als Siusans Blick an Megan vorbeiwanderte. „Lion flüsterte sie verwundert und hoffnungsvoll.
Eine starke, gebräunte Hand umschloss ihre dünnen Finger. „Nein, ich bin Ross.“
„Oh Ross ... Er ist tot, ich ... ich konnte ihn nicht retten, denn ich kam zu spät.“
Ihr Schluchzen zerstreute alle Zweifel. Sie hatte seinen Bruder geliebt. „Beruhige dich, es war nicht deine Schuld.“ Siusan erschauerte. „Aber ich hätte wissen müssen, dass er in Gefahr schwebte. Bist du allein gekommen?“
„Ich habe meine Männer mitgebracht...", begann Ross. „Aber nicht Papa - oder Comyn.“ Angst verdunkelte ihre Augen, ihre Hand zitterte in seiner. „Sag mir, dass du sie nicht mitgebracht hast! “, flehte sie.
Bestürzt wechselte er einen Blick mit Megan. Hatte sie doch recht, was MacDonell betraf? „Nein, beide sind in Curthill.“
„Gott sei Dank.“ Seufzend schloss Siusan die Augen.
„Hat einer der beiden Lion getötet?“, fragte er, obwohl er wusste, dass dies der falsche Zeitpunkt war, um sie zu bedrängen. Aber er hatte so lange auf die Wahrheit gewartet. „Ross!“, rief Megan. „Siehst du nicht, wie krank sie ist?“ „Schon gut“, flüsterte ihre Schwester.
Sie liegt im Sterben, dachte Ross erschüttert. Und sie weiß
es. Das las er in ihren Augen, die sie wieder öffnete.
„Schon gut“, wiederholte sie. „Ich will bei Lion sein, und ich habe nur gewartet, bis du gekommen bist, Megan. Du musst für Kieran sorgen und ihn beschützen, so als wäre er dein eigenes Kind.“
„Ja, natürlich“, versprach Megan mit tränenerstickter Stimme. „Aber du wirst uns nicht verlassen. Sobald wir dich in ein wärmeres Klima bringen ... “
„Zu spät...“ Kraftlos schüttelte Siusan den Kopf. Sie löste ihre Hand aus Ross’ Fingern und wischte eine Träne von Megans Wange. „Ich will gehen - zu Lion. Aber die Trennung von Kieran fällt mir schwer ... “ Ihr kummervoller Blick glitt zu der Wiege hinüber, die neben dem Kamin stand. „Vor vielen Jahren hat Onkel Dugan diese Wiege für die Kinder gezimmert, die Tante Brita dann begraben musste. Eine Zeitlang fürchtete ich auch, Kieran zu verlieren, aber er ist stark wie sein Vater - und alles, was von Lion und mir geblieben ist.“ Nun schaute sie wieder Ross an. „Du wirst dich doch um ihn kümmern?“
„Aye, ich tue mein Bestes für Lions Sohn“, würgte er mühsam hervor. Oh Gott, sein Bruder hatte das Kind nie gesehen. Von diesem Gedanken getrieben, eilte er zum anderen Ende des Raums, kniete neben der Wiege nieder und betrachtete den schwarzhaarigen Säugling. Vorsichtig berührte er das flaumige Köpfchen.
Das Kind bewegte sich, schlug violette Augen auf, und sein Blick traf Ross mitten ins Herz. Was hätte es für seine trauernden Eltern
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