Das Herz des Ritters
Und dennoch ist er immer noch am Leben.«
Am Rande der um sie herum wogenden Menschenmenge erkannte Zahirah drei der Leibwächter ihres Vaters. Dank ihrer unauffälligen Kleidung sahen sie aus wie alle anderen Menschen auf der Straße, doch sie erkannte ihre Gesichter wieder und wusste, dass jeder von ihnen, wie wohl auch Sinan unter seiner Bettlerkleidung, schwer bewaffnet war. Wie treu ergebene Hunde beobachteten sie ihren Meister, warteten auf seinen Befehl. Ihre hasserfüllten Blicke verrieten ihr, dass sie ihr alle nur zu gerne die Kehle aufgeschlitzt hätten. Todesangst stieg in ihr auf, griff mit kalten Klauen nach ihr, und sie schluckte schwer. »Vater, lasst mich erklären …«
»Ich will deine Erklärungen nicht hören«, schnitt er ihr ungehalten das Wort ab, wenngleich seine Stimme nach wie vor trügerisch sanft klang. »Ich erwarte schnelle Taten, Zahirah. Ich bin das Warten leid.«
»Ja, Vater. Natürlich, das verstehe ich.«
»Tatsächlich?«
Zahirah nickte, doch ihre Gedanken schweiften ab, als sie plötzlich Sebastians tiefe, melodische Stimme vernahm und hörte, wie er jemanden auf Arabisch grüßte. Vermutlich hatte er die Menge fast durchquert und würde gleich bei ihr sein. Sie wagte nicht, in seine Richtung zu blicken, denn sie wollte um jeden Preis verhindern, dass ihr Vater ihr anmerkte, wie sehr sie sich um Sebastian sorgte. Jedoch vergebens; der Aufmerksamkeit des allmächtigen Alten vom Berge entging nichts.
»Der englische Hauptmann scheint sehr angetan von dir.« Sinan presste die schmalen Lippen zusammen. »Oh ja, Tochter. Ich habe es beobachtet. Hast du seinetwegen deine Mission noch nicht erfüllt?«
»Nein«, leugnete sie rasch. Dann zwang sie sich zu Gelassenheit. »Nein. Es gab Komplikationen, das ist alles. Er hat nichts damit zu tun.«
Der Alte grunzte und warf einem seiner Leibwächter einen Blick zu. »Ich denke, ich kann das besser beurteilen.«
»Was … was meint Ihr damit?«, fragte sie mit einem flauen Gefühl im Magen und von einer dunklen Vorahnung erfüllt.
Sie wusste, falls ihr Vater in Sebastian eine Bedrohung seines Zieles sah, würde er nicht davor zurückschrecken, diesen auf offener Straße töten zu lassen – jetzt sofort, inmitten des dichten Gedränges. Sebastian würde die Dolche gar nicht kommen sehen. Und in diesem Moment war Zahirah der Köder, der ihn direkt in die Falle lockte.
»Bitte, Vater«, flüsterte sie und griff verzweifelt nach Sinans ledriger, von blauen, wulstig hervortretenden Venen durchzogener Hand. Sie hielt die schlanken Finger fest, die regungslos und schlaff in ihrer Hand lagen. »Bitte … Ich flehe Euch an. Tut das nicht.«
»Du hast eine Aufgabe zu erfüllen, Zahirah.«
»Und ich werde sie auch erfüllen«, sagte sie bestimmt und betete darum, dass er ihr glaubte. »Ich habe meinen Schwur nicht vergessen.«
»Das freut mich zu hören«, erwiderte Sinan. »Ich gebe dir noch zwei Tage.«
»Zwei Tage?«, fragte sie entsetzt. »Aber das ist unmöglich, ich brauche mehr Zeit …«
»Zwei Tage, Zahirah. Und wenn du versagst, wird dein englischer Geliebter sterben.«
»Ich werde es tun«, versprach sie mit kläglicher Stimme, in dem Wissen, welch hohen Preis dieses blutige Versprechen von ihr forderte. »Ich werde Euch nicht enttäuschen, Vater. Aber bitte versprecht Ihr mir dafür, dass Ihr ihm nichts antun werdet.«
Stoisch und unbeugsam verweigerte er ihr die Antwort, und zu weiteren flehenden Worten blieb keine Zeit.
Sebastian schlüpfte in seine Tunika, ging an einem Bauern vorbei und trat, liebevoll lächelnd, zu Zahirah. Dann flog sein Blick zu Sinan, und er hielt inne. In seine unbeschwerte Miene trat ein argwöhnischer Zug. »Gibt es Schwierigkeiten, Mylady?«
»Nein«, antwortete sie und schüttelte rasch den Kopf. Sie ließ die Hand ihres Vaters los und stellte sich an Sebastians Seite. Ihr Lächeln empfand sie als aufgesetzt und gezwungen; die Lüge haftete wie klebriger Sirup an ihrem Gaumen. »Ich fürchte, ich habe nicht auf meine Schritte geachtet und bin mit diesem Mann zusammengestoßen. Ich habe ihn soeben um Vergebung gebeten.«
Das Kinn reckend, nahm Sebastian ihre Erklärung zur Kenntnis und betrachtete aufmerksam ihren Vater, der sie, aufrecht wie eine Viper, die darauf lauert, zuzuschlagen, in wachsamem Schweigen beobachtete. »Nun, ich bin sicher, er wird dir verzeihen«, sagte Sebastian auf Arabisch. Sein prüfender Blick glitt über Sinans zerrissene Kleidung und seine magere Gestalt.
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