Das Herz des Satyrs: Roman (Knaur TB) (German Edition)
hielt ebenfalls an, sorgsam auf Distanz bedacht. Er veränderte seine Haltung, um mehr Bodenhaftung zu bekommen, mehr Kontakt zu dem, was hier verborgen sein mochte. Die Vergangenheit – das war es, was ihn nährte. Sie faszinierte ihn mehr, als alle Dinge der Gegenwart es je vermochten.
»Wer bist du?«, flüsterte er. Aber das Mädchen schüttelte nur den Kopf. Es hob die Arme gen Himmel wie ein Engel und begann, sich auf der Stelle im Kreis zu drehen, langsam und ätherisch.
Das Flüstern der Arbeiter wurde aufgeregter. Was hat er gesagt? Was passiert da? Mehrere Männer bekreuzigten sich zum Schutz gegen das Böse.
Aber Bastian bemerkte von alldem nichts. Er stand nur da, wartete und beobachtete, und jede Zelle seines Körpers hatte sich der Vergangenheit geöffnet und gierte danach, mehr von ihren Geheimnissen zu erfahren. Plötzlich tauchten weitere nebelartige Erscheinungen um das Mädchen herum auf, eine nach der anderen wie Lichter, die angeknipst wurden, bis insgesamt zwölf Mädchen zu sehen waren. Ein jedes war in ein Gewand aus dem antiken Rom gekleidet, eine Tunika mit langem fließendem Rock, der bis zu den schlanken Knöcheln reichte.
»Warum zwölf?«, fragte Bastian laut, denn die Philosophen hatten nur von sechs Jungfrauen geschrieben. Aber weder erwartete er eine Antwort, noch erhielt er eine.
Zusammengedrängt zu einer Schar aus düsterem Grau und hauchdünnem Weiß, standen die Mädchen feierlich da und schienen das Urteil des einzelnen Mannes zu erwarten, der in der Mitte der Gruppe stand. Er war ein Mann der Religion, gekleidet in überlange zeremonielle Roben. Seine Hand legte sich gebieterisch auf die Schulter eines Mädchens – seine erste Wahl. Dann erwählte er noch eines und dann ein weiteres. Letzten Endes teilte er die zwölf Mädchen in zwei Gruppen zu jeweils sechs Mädchen auf. Seine Hand legte sich auf die Schulter des letzten Mädchens – des Mädchens, das Bastian hierhergeführt hatte.
» Amata «, flüsterte Bastian. Geliebte .
Ihr Kummer darüber, dass sie auserwählt worden war, streckte sich wie etwas Lebendiges nach Bastian aus. Von nun an würde sie der Göttin Vesta dienen. Drei Jahrzehnte lang würde sie die heilige Flamme hüten. Und damit sie, in Herz und Verstand, durch nichts abgelenkt werde, würde es ihr verboten sein, zu heiraten oder sinnliche Freuden zu genießen.
Als die Mädchen fortgeleitet wurden, fuhr eine starke Windbö über die Vision, durch Röcke und Haare und weiter in seine Richtung. Und genau in dem Augenblick, als die Windbö Bastian erreichte, warf das Mädchen einen schnellen Blick über die schmale Schulter. So als wolle die Kleine feststellen, wie er das beurteilte, was er gerade gesehen hatte, fanden ihre Augen, die über ihr Alter hinaus weise waren, seinen Blick. Augen von einem reinen, klaren Himmelblau. Farbe! Urplötzlich erblühte sie zu einem wahren Feuerwerk verschiedener Farbtöne – perlmuttfarbene Haut, rosige Wangen und Lippen und wildes rotgoldenes Haar mit kupferfarbenen Strähnen. Sein Herz hämmerte bei dem Anblick, der in ihm Freude und Schock zugleich auslöste.
»Dein Name. Sag mir deinen Namen!«, verlangte er und lief entschlossen hinter ihr her.
Ihre Augen wurden groß, und sie schüttelte den Kopf, so dass ihr langes feuergoldenes Haar im Wind wehte. Bevor Bastian sie erreichen konnte, wirbelte der Nebel auf und hüllte sie in Verborgenheit. In graue Düsternis. Die Szene verschwand.
Und mit ihrem Verschwinden wurde ihm schlagartig das Flüstern rundum bewusst. Und die Kälte. Höllen! Wann hatte sich das Wetter geändert? Er sah sich um und fand sich umgeben von neugierig und furchtsam blickenden Männern. Verdammt. Er hatte zu viel preisgegeben. Die Menschen redeten ohnehin schon über sie. Machten sich Gedanken über die merkwürdigen Vorkommnisse, die ihn und seine Familie zu verfolgen schienen. Und jetzt hatte er noch mehr Misstrauen erregt.
Sevin hatte ein paar Meter entfernt zugesehen, an eine Säule gelehnt, die einst zum Tempel des Cäsar gehört hatte.
»Wo kommt all dieser Nebel her?«, fragte Bastian ihn verblüfft und schauderte heftig. Der kalte Wind des Winters berührte ihn wie eisige Finger, die ihn mit ihrer kalten Berührung streichelten. »Götter, es ist eiskalt.«
»Dein Mantel, Bruderherz«, sagte Sevin. Er warf Bastian das Kleidungsstück zu, der es anzog, ohne groß danach zu fragen, wie es kam, dass sein Bruder es dabeihatte.
Sein Assistent Ilari sprudelte förmlich über
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