Das Herz des Satyrs: Roman (Knaur TB) (German Edition)
über ihre Haut gehuscht.
Überrascht über die Reaktion der Freundin, drückte Michaela die Lippen auf ihren eigenen Unterarm und zuckte zusammen, als sie selbst auch das leichte Prickeln verspürte. »Meine Lippen«, sagte sie ehrfürchtig. »Sie haben jetzt dieselbe Wirkung wie meine Hände. Versucht es selbst«, drängte sie die anderen. »Küsst eure eigenen Arme und seht, ob es auch bei euch geschieht.«
Silvia versuchte es und sagte dann enttäuscht: »Es ist nichts passiert.« Auch bei den anderen Mädchen geschah nichts. Als keine der anderen irgendetwas Ungewöhnliches verspürte, küsste Michaela jede von ihnen auf die Wange, damit sie das seltsame Prickeln spüren konnten. Aemilia kicherte und bat sie, das noch einmal zu tun. Aufgrund ihres liebenswerten Wesens war Aemilia der Liebling aller anderen Vestalinnen, doch gleichzeitig brachte sie ihre Lehrer zur Verzweiflung, denn anders als die anderen, die überragend in ihren Studien waren, hatte sie es noch nicht einmal geschafft, die Grundlagen des Lesens und Schreibens zu erfassen.
»Michaela?« Vestalis kam in den Speisesaal. »Pontifex Maximus befiehlt deine Anwesenheit in der Regia. Bitte folge mir. Aemilia, du wirst zusammen mit Occia die Flamme hüten.«
Occia beklagte sich lautstark über diese Änderung, denn das bedeutete, dass sie die ganze Arbeit machen musste. Aemilia ließ sich allzu leicht ablenken und war nicht zuverlässig, wenn es darum ging, die Flamme des Tempels am Brennen zu halten.
Silvia sah Michaela fragend an, die ihrerseits nur mit den Schultern zuckte. Sie hatte keine Ahnung, warum man nach ihr geschickt hatte. Sie folgte Vestalis aus dem Saal und ward für den Rest des Tages nicht mehr gesehen.
Silvia war schon fast eingeschlafen, als Michaela endlich in ihr Bett kletterte. »Wo bist du gewesen?«
»Bei Pontifex, und danach bei Vestalis Maxima«, antwortete Michaela.
»Wegen dem, was geschehen ist, mit deinem …?« Sie deutete auf Michaelas Mund.
Michaela nickte, während sie sich Stück für Stück auszog, bevor sie unter die leichte Decke schlüpfte. »Sie sagen, dass es einigen von uns passieren wird, wenn unser Blut kommt.«
»Einigen?«
»Nur den Begleiterinnen. Und deshalb findet von jetzt an meine letzte Unterrichtsstunde nachmittags getrennt von allen anderen statt.«
»Was werden sie dich dort lehren?«, fragte Silvia und hörte dabei den Neid in ihrer eigenen Stimme. Sie saugte die Unterrichtsstunden wie ein Schwamm auf und wurde allgemein als die klügste Schülerin unter ihnen angesehen. Wenn es etwas Neues zu lernen gab, dann wollte sie zusammen mit Michaela lernen.
Michaelas Blick wurde geheimnisvoll. »Willst du es wirklich wissen?«
Silvia nickte.
»Man lehrt mich, Männer zu beobachten. Ihre Interessen zu erfahren. Ihre Bedürfnisse vorauszuahnen. Ganz ähnlich wie bei einer Ehefrau.«
»Aber warum, wenn wir doch unberührt bleiben sollen?«
Michaela gähnte. »Ich weiß nicht. Rutsch ein Stück.« Als Silvia ihrer Bitte nachkam, lehnte Michaela sich an Silvias Rücken und schlang einen Arm um ihre Taille, wie sie es beim Schlafen gern tat.
Noch lange nachdem Michaela eingeschlafen war, lag Silvia wach und grübelte über diese neue Entwicklung und ihre mögliche Bedeutung nach. Pontifex konnte man nicht trauen, und sie machte sich Sorgen um Michaela. Mit einer Ausbildung, wie sie sie beschrieben hatte, war eine Frau in der Lage, nichtsahnenden Regierungsbeamten politische Geheimnisse zu entlocken. Oder einem Mann nahezu alles zu stehlen, wenn es in Pontifex’ Pläne passte. Ihr Verstand arbeitete fieberhaft, während sie die beunruhigenden Möglichkeiten erwog, die auf ihre Freundin zukommen mochten.
Als der Mond aufging und die Nacht in fahles Licht tauchte, erhob sie sich und schlich hinaus in den Hof des Atriumhauses. Dort kniete sie vor der Statue ihrer Göttin nieder. Vesta – der Silvia mehr Liebe und Vertrauen als jedem anderen entgegenzubringen gelernt hatte. Die Göttin stand da wie immer, einen Ausdruck des Wohlwollens in ihren Augen, die Arme an den Seiten leicht erhoben und nach außen gedreht, die Handflächen einladend nach oben gerichtet.
In ihrer linken Hand hielt sie das geheiligte Zeichen der Reinheit; in ihrer rechten das Zeichen des Feuers.
Die beiden Symbole, die Silvia definierten, sie und jede Anwärterin im Haus.
Silvia legte ihre Hände in die Vestas und fühlte die beruhigende Wärme, die von den Handflächen der Göttin ausstrahlte. Und mit all ihrer Kraft
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