Das Herz des Satyrs: Roman (Knaur TB) (German Edition)
Richtung und sah ihn in einer recht hitzigen Diskussion mit dem Minister. Das war ihre Chance, jetzt, solange er abgelenkt war. Sie begab sich möglichst schnell zum Atriumhaus, ihren Blick auf dessen Hauptattraktion gerichtet – die erst kürzlich enthüllte Statue der Vesta.
»Sagen Sie, finden Sie, dass diese Ascotkrawatte gut zu meinem Mantel passt?«, fragte Minister Tuchi.
Bastian hielt den Blick auf Michaela gerichtet, die in Richtung des Büfetts wanderte, und hörte der banalen Unterhaltung nur mit halbem Ohr zu. »Fragen Sie Ihren Schneider.«
»Ich frage aber Sie.«
»Warum?«
»Damit ich ein Gerücht über Sie entkräften kann.«
Das weckte Bastians Aufmerksamkeit, und er starrte auf den jungen Minister hinab, der im Ministerium für alte Kultur in Rom beständig an Macht gewann. »Welches Gerücht? Sie müssen schon etwas genauer werden, denn über meine Familie gibt es so viele Gerüchte. Wir müssen wohl recht faszinierende Leute sein.«
»Ein Gerücht, dass Sie farbenblind seien.« Tuchi lächelte und genoss seinen Schlag.
Bastian führte seinen Kristallkelch zum Mund und nahm einen kleinen Schluck Wasser, während seine Gedanken rasten. Schon lange hatte er befürchtet, dass irgendwann jemand sein Handicap entdeckte, und er hatte sich oft gefragt, wie er dann wohl reagieren würde. Doch jetzt zuckte er nur mit den Schultern. »Ich gehe davon aus, dass dieses spezielle Gerücht von dem Vorarbeiter stammt, den Sie mir als Spion geschickt haben? Sagen Sie Ilari, er ist gefeuert. Mit sofortiger Wirkung.«
Tuchi ließ den Blick über Bastian schweifen. »So streng. Aber warum diskutieren wir diese Angelegenheit nicht ausführlicher, bevor wir übereilt handeln? Vielleicht bei einem Drink in meinem Herrenklub?«
»Ich trinke nicht.«
Daraufhin hob der Minister die Augenbrauen und schaute demonstrativ auf Bastians Glas, doch er sagte nur: »Nun gut, dann vielleicht bei einer Zigarre.«
»Ich rauche auch nicht.«
»Was sind Sie doch für ein Muster an Vorbildlichkeit, Herr Satyr. Dann sagen Sie mir, welche Art von Laster haben Sie denn, damit ich besser darauf eingehen kann?« Der Tonfall, den er dabei anschlug, hatte eine kokette Note, als würde er mit Bastian flirten. Hatte Rico etwa recht gehabt, was Tuchi betraf? Der Junge war vor zwei Wochen beim Aquädukt gefunden worden – tot, einer Infektion zum Opfer gefallen. Bastian hatte dafür gesorgt, dass er ordentlich begraben wurde, aber insgeheim trauerte er noch immer um ihn.
»Ich versichere Ihnen, ich habe viel zu viele Laster, um sie alle aufzuzählen.« Bastian stellte sein Glas auf einem Tablett ab und trat dann ganz nah auf den Mann zu. »Versuchen Sie gerade, sich mir zu nähern?«
Der Minister holte hörbar Luft und antwortete dann vorsichtig: »Und wenn es so wäre?«
»Sie fühlen sich zu Männern hingezogen?«
Tuchi warf ihm einen Blick zu und schwenkte leicht sein Glas. »Gelegentlich. Zu manchen mehr als anderen. Zu Ihnen. Was sagen Sie dazu?«
Bastian zuckte mit den Schultern. »Ihre Auftraggeber und Ihre Frau mögen Probleme mit Ihren Vorlieben haben, aber ich nicht. Sollten Sie jedoch irgendwo auch nur ein Wort Ihrer falschen Anschuldigungen gegen mich verlauten lassen, werde ich dafür sorgen, dass Ihre kleinen Sünden auf der Titelseite jeder Zeitung erscheinen. Also, bevor Sie Hand an mich legen, schlage ich vor, Sie fangen bei sich selbst an, Minister. Guten Tag.« Damit tippte er zum Abschied an seinen Hut.
Tuchis Lächeln erstarb, und seine Wangen überzogen sich mit Röte. »Das wird Ihnen noch leidtun, wenn wir Ilari nächsten Herbst als Ihren Nachfolger einsetzen«, schimpfte er leise.
Silvia betrachtete im Vorbeigehen den Tempel. Vor fünfzehnhundert Jahren war er prachtvoll gewesen und hatte die ewige Flamme beherbergt, doch jetzt waren nur noch acht Säulen und ein Ziergiebel übrig. Sie wandte sich zur Südseite, ging um die Sperre herum, die die Neugierigen fernhalten sollte, und betrat das Atriumhaus. Auf die Nostalgie, die sie erfasste, war sie allerdings nicht vorbereitet.
In diesem Haus hatte sie gelebt, seit sie sechs Jahre alt gewesen war, bis zum Alter von dreiundzwanzig Jahren. Siebzehn Jahre lang. Damals war der Hof des Hauses mit weißem Marmor gefliest und von einem stattlichen, zweistöckigen Säulengang umgeben gewesen. Doch jetzt waren nur noch Grundmauern und einige zerbrochene Statuen übrig. Für die Feier hatte man vorübergehend ein Sonnendach über dem Gelände aufgespannt, und
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