Das Herz des Südens
die einzige reine Seele, die sie jemals kennengelernt hatte, der einfältige, liebevolle Thibault. Wohl möglich, dass er die letzten Minuten im Leben seiner Mutter und seines Vaters beobachtet hatte.
Diese ersten Minuten der Flut – Cleo erinnerte sich an das grauenvolle Geräusch, das alles andere auslöschte, so beherrschend wie die Stille. Sie konnte Maman und Monsieur förmlich vor sich sehen, wie sie keuchten, in dem strömenden Wasser kämpften, die Panik auf ihren Gesichtern, als sie von ihrem Kind weggerissen wurden. Es war mehr als wahrscheinlich, dass sie und Thibault an diesem Tag zu Waisen geworden waren – und Josie ebenfalls. Cleo erschauderte bei dem Gedanken, obwohl die Luft schwül war.
11
Johnston-Plantage
Albany war nach Josies Reitunfall sehr anhänglich geworden. Von dem Moment an, da sie den Schlamm aus ihren Haaren entfernt und sich umgezogen hatte, wich er den ganzen Nachmittag nicht mehr von ihrer Seite. »Setz dich doch hierher in den Schatten«, sagte er, und er bot ihr einen kleinen Brandy an, damit sie den Schmerz nicht mehr so sehr spürte.
Chamard dagegen ließ sich den Nachmittag über nicht blicken, sondern machte eine Tour durch die Plantage, und Josie blickte ständig zur Tür.
Er war der bestaussehende Mann, dem sie jemals begegnet war, und so vornehm! Während Albany über die Zukunft des Zuckerrohranbaus daherschwadronierte, erinnerte sie sich immer und immer wieder an den Kuss, den Chamard ihr gegeben hatte. Mit dem Finger fuhr sie sich über die Unterlippe, und die Erinnerung an Chamards Mund wärmte sie von innen her.
Irgendwann merkte sie, dass Albany ihr auf den Mund starrte. Sie ließ die Hand sinken und tat wieder so, als wäre sie brennend interessiert an den Einzelheiten des Marktes in New Orleans.
Abigail und Mrs Johnston saßen zu beiden Seiten des hohen Fensters und beschäftigten sich mit ihrer Stickerei. Sie waren beide ungewöhnlich still, und Josie beobachtete ein paar Mal, wie Mrs Johnston über ihre Lesebrille hinweg zu ihr und Albany herüberblickte. Aber da sie nickte und lächelte, vermutete Josie, sie müsse Albanys Aufmerksamkeiten allein ertragen.
Vor dem Abendessen kamen Mr Johnston und Chamard zu ihnen in den Salon. Endlich, dachte Josie. Sie hoffte, ihr Cousin würde sich zu ihr setzen, aber Albany lenkte seinen Gast ab, indem er ihn zum Humidor in der anderen Ecke des Zimmers führte. »Zigarre gefällig?«
Josie bewunderte den offensichtlichen Genuss, mit dem Chamard den ersten Zug an der guten kubanischen Zigarre nahm.
»Nun, was halten Sie von der Plantage, Mr Chamard?«
Er spähte durch den Rauch auf seine Gastgeberin. »Sehr schön. Sie haben auf dieser Seite des Flusses einige Stellen mit ausgezeichnetem Boden. Und insgesamt ist der Boden so dunkel, wie er sein muss, und gut entwässert.«
Mr Johnston wechselte das Thema. »Meine Liebe, du wirst froh sein zu hören, dass die Deiche dem Hochwasser standhalten«, sagte er zu seiner Frau. Er wandte sich an Chamard. »Mrs Johnston hatte nämlich große Angst vor einer Überschwemmung. Irgendjemand in New Orleans hat ihr eingeredet, dass der Fluss sich einen Weg durch den Deich bahnen kann, und bei dem schweren Regen der letzten Tage hat sie wirklich nicht gut geschlafen.«
»Wie ein Messer durch die Butter, das hat Felicity LeRoy gesagt.«
»Ich habe es dir doch schon mal gesagt, Mutter«, mischte sich nun Albany ein. »Wir haben jeden Zentimeter des Deiches noch einmal befestigt. Wir sind hier wirklich in Sicherheit.«
»Ich danke dir, mein Lieber«, sagte Mrs Johnston und legte eine Hand auf ihr Herz. Josie fragte sich, ob ihr klar war, dass die Deiche ihrer Nachbarn flussaufwärts für ihre Sicherheit von ebenso großer Bedeutung waren wie ihre eigenen.
»Und du bist ganz wiederhergestellt, Josephine?«, fragte Chamard.
Josie ärgerte sich, dass sie schon bei einem Blick von ihm errötete. »Vollkommen«, sagte sie.
»Ich bin sicher, sie leidet mehr, als sie zugibt«, sagte Abigail. »Sie hat schreckliche blaue Flecken auf … nun, sie hat jedenfalls schreckliche blaue Flecken.«
Bertrands Lächeln grenzte ans Unanständige, und Josie wusste, jetzt war ihr Gesicht feuerrot. Phanor neckte sie auf die gleiche Weise, dachte sie, aber ihm fehlte natürlich das Raffinement eines Bertrand Chamard. Bertrand atmete Eleganz, während Phanor bei all seinem Charme unwissend und unreif war.
Aber Phanor hatte einen Graben um die Familiengruft gezogen. Hätte Bertrand das ebenfalls
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