Das Herz einer Löwin: Roman (German Edition)
breite Schultern und starke Muskeln unter einem weißen T-Shirt. Sie zögerte kurz und rief dann noch einmal: »Hallo? Entschuldigen Sie?«
Mit einer einzigen fließenden Bewegung stand der Mann auf und drehte sich um. Er war barfuß und trug eine lange Khaki-Hose. Im Arm hielt er ein kleines Tier – ein Lamm mit rotem, lockigem Fell. Mit der freien Hand zog er die Kopfhörer seines iPod aus den Ohren.
Einen Moment lang blickten sie sich an. Emma registrierte die ebenmäßigen Züge des Mannes; eine dunkelrote Narbe oben auf seiner Stirn; Augen, die im Dämmerlicht des Flurs fast schwarz wirkten; er war kein Teenager, aber auch noch nicht im mittleren Alter, schätzte sie, sondern irgendwo dazwischen. Dann blickte sie auf das Lamm, das er im Arm hielt: Vier staksige Beine und ein breiter, flacher Schwanz hingen an seinem T-Shirt herunter; das wollige Köpfchen hatte das Tier in seine Armbeuge geschmiegt.
»Das Kleine ist krank gewesen«, sagte der Mann. »Aber jetzt kann es wieder zurück zu seiner Mutter.« Er nickte zu einer braunen Bierflasche mit einem Babysauger. »Es hat viel Milch getrunken.«
Emma lächelte. »Es ist wunderschön.« Als es ihre Stimme hörte, schlug das Lamm die Augen auf. Sie waren hell und klar.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Mann. »Haben Sie sich verfahren?« Sein Englisch war flüssig, mit einem leichten afrikanischen Akzent.
»Nein, ich habe mich nicht verfahren. Ich suche nach dem Leiter hier.«
»Wir arbeiten hier nur zu zweit – mein Assistent und ich. Ich bin der Tierarzt, der für das Forschungsprojekt verantwortlich ist. Mein Name ist Daniel Oldeani.« Er nahm das Lamm auf den anderen Arm und streckte ihr die rechte Hand entgegen, die Handfläche nach oben gerichtet.
Emma schüttelte ihm die Hand – es fühlte sich merkwürdig an, als ob sie beide eine unterschiedliche Geste nachahmen würden. »Ich bin Dr. Lindberg – Emma Lindberg. Ich habe einen Brief geschrieben und meinen Besuch in der Station angekündigt.«
Daniel blickte sie verwirrt an. »Ich habe keinen Brief erhalten. Vielleicht ist er verlorengegangen. Das passiert schon mal.« Er musterte Emma, als suche er nach Hinweisen darauf, wer sie sein könne. Wahrscheinlich dachte er, dass sie zu jung aussah, um Doktor zu sein; Besucher im Institut hielten sie häufig für eine ihrer Studentinnen. Dann lächelte er, und seine Zähne blitzten weiß auf. »Wollen Sie hier arbeiten? Ich habe schon viele Briefe an die Hilfsorganisationen geschrieben, weil wir hier gut Unterstützung brauchen könnten.«
»Nein, leider nicht.« Emma schüttelte den Kopf. »Es ist nur ein privater Besuch. Meine Mutter ist vor langer Zeit hier gewesen – Anfang der achtziger Jahre. Sie hat Untersuchungen durchgeführt für das Centre of Disease Control in Amerika.« Sie blickte sich nach den beiden Räumen um, an denen sie vorbeigekommen war. »Ich wollte gerne sehen, wo sie gearbeitet hat.«
Daniel schwieg ein paar Sekunden lang. »Es tut mir leid, dass dieser traurige Anlass Sie hierhergebracht hat«, sagte er schließlich leise.
Emma blickte ihn überrascht an. »Haben Sie sie gekannt?«
»Ich war noch ein Kind damals, und ich selbst kann mich nicht an sie erinnern. Aber sie ist hier nie vergessen worden. Sie sind die Tochter von Dr. Susan Lindberg.« Er nickte langsam. »Sie sind hierhergekommen, um sie zu ehren. Sie sind hier herzlich willkommen.«
Emma hatte auf einmal einen Kloß im Hals. Von allen Leuten, denen sie von dieser Reise erzählt hatte, war Daniel Oldeani der Erste, der auf Anhieb verstanden hatte, warum sie hierhergekommen war. Er verstand, dass es nicht aus Neugier geschah oder ein Vorwand war, um Afrika zu besuchen. Eher war es eine Art Pilgerreise.
»Wie lange bleiben Sie?«, fragte Daniel. »Wir haben hier zwar kein Gästezimmer, aber wir können bestimmt etwas arrangieren.«
»Es ist schon okay«, erwiderte Emma rasch. »Ich wollte nicht lange bleiben. Ich bin mit dem Fahrer einer Safari-Gesellschaft hier. Er fährt mich zum Ngorongoro-Krater. Heute Abend müssen wir dort sein.«
»Sie haben große Eile!« Wieder lächelte Daniel. Er wies auf den vorderen Teil des Gebäudes. »Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.«
Emma wollte ihm gerade folgen, als Mosi an die Hintertür kam. »Das ist mein Fahrer«, sagte sie zu Daniel.
Die beiden Männer begrüßten einander und unterhielten sich dann. Emma nahm an, dass sie Swahili sprachen. Nach einigen Minuten wandte Daniel sich zu ihr. »Ihr Fahrer
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