Das Herz einer Löwin: Roman (German Edition)
Station war schließlich nur ein Gebäude, mahnte sie sich, ein Haus aus Ziegeln und Holz. Sie konnte dort übernachten. Natürlich konnte sie das. Sie musste nur rational an die Sache herangehen und sich an die Tatsachen halten – so wie sie es bei der Arbeit im Institut tat. Der Laborleiter hatte es ihr eingetrichtert: Emotionen mussten unterdrückt werden, sonst litt die Urteilsfähigkeit. Sie zwang sich zu einem Lächeln.
Daniel erwiderte das Lächeln. »Ich freue mich, wenn Sie mir mit den Kamelen helfen. Sie müssen heute Abend gefüttert werden.«
»Ja, natürlich.« Daran hatte Emma gar nicht mehr gedacht. Sie war es nicht gewohnt, an die Bedürfnisse von Tieren zu denken. Nachdem sie ihr Kätzchen hatte abgeben müssen, hatte sie als Kind kein anderes Haustier mehr haben wollen. Und für sie und Simon war es auch nie in Frage gekommen. Sie wollten ungebunden sein.
Daniel stieg aus dem Landrover und bedeutete Emma, ihm zu folgen. Als sie die Beifahrertür zuschlug, kam der Junge, der vor der Polizeistation auf ihr Auto aufgepasst hatte, außer Atem angerannt und nahm seine Position auf der Kühlerhaube wieder ein.
Daniel führte Emma durch die grüngelbe Eingangstür zu einem der hohen Stühle an der Theke aus weißgestrichenem Holz.
»Warten Sie bitte hier«, sagte er. »Ich komme gleich wieder.« Dann verschwand er durch eine Tür links von der Theke.
Emma setzte sich auf einen der Hocker und schlang sich den Riemen der Tasche über den Arm. Es gab einen Kühlschrank, der Bierflaschen, Cola und Fruchtsäfte enthielt, aber das einzig Essbare waren gekochte Hühnerteile und ein paar Samosas in einem Glaskasten ohne Kühlung. Sie sahen so aus, als lägen sie schon den ganzen Tag darin. Genauso gut hätte man sie in einen Bakterien-Inkubator stecken können. Emma überlegte, was sie sagen sollte, wenn Daniel vorschlug, davon zu essen.
Sie schlug nach einem Moskito, der an ihrem linken Ohr surrte. Dann nahm sie ihr Insektenspray aus der Tasche, hielt sich mit einer Hand die Augen zu und sprühte Gesicht und Haare ein. Danach krempelte sie die Ärmel ihrer Bluse herunter und schloss den obersten Kragenknopf. Sie blickte über den Platz auf die Polizeistation und stellte sich vor, wie der Polizist an seinem Schreibtisch saß, Telefonate führte und Listen in seinem Notizbuch anlegte.
Emma schaute auf ihr Handy. Auf der Mailbox waren keine Nachrichten – sie hatte eine Sim-Card von einem lokalen Unternehmen, Vodacom, gekauft, und die Nummer nur ihrer Labor-Assistentin geschickt. Sie fühlte sich weit entfernt von ihrer Welt. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie Simon anrufen sollte – Daniel hatte das offensichtlich erwartet –, aber es ging ja nicht. Simon war in seiner eigenen Welt unterwegs – in der Antarktis, die Emma sich nur weiß, kalt und leer vorstellte. Am Ende der Welt. Sie konnten sich E-Mails schicken und via Satellit telefonieren. Aber als Emma die letzten Male angerufen hatte, hatte Simon so geistesabwesend geklungen, als ob sie ihn bei etwas Privatem stören würde. Und da sie verstand, wie es war, in seine Arbeit vertieft zu sein, hatte sie versucht, die Telefonate so kurz wie möglich zu halten. Trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass es ihm lieber gewesen wäre, wenn sie ihm lediglich eine E-Mail geschickt hätte. Sie lächelte schief. Wenn sie Simon tatsächlich anrufen und ihm sagen würde, wo sie war und warum, würde er nicht verstehen, wie man sich so hinreißen lassen konnte. Er hielt nichts davon, wenn man die Nase in die Angelegenheiten fremder Menschen steckte. Es wäre viel einfacher, wenn sich jeder um seine eigenen Probleme kümmern würde, hatte er oft zu Emma gesagt. Wenn sich die Grenzen verwischten, dann wurde es chaotisch, im Labor wie im richtigen Leben.
Emma schob die Gedanken an Simon beiseite und blätterte ihre Reiseunterlagen durch, bis sie die Telefonnummer der Seronera Lodge fand. Sie teilte dem Mann an der Rezeption mit, dass sie leider aufgehalten worden sei.
»Machen Sie sich keine Sorgen, Madam«, erwiderte er. »Sie können in Ngorongoro zur Safari stoßen. Ich arrangiere alles.«
Als Emma ihr Handy wieder in die Tasche steckte, kam Daniel zurück. Ein kleiner Junge in einem zerrissenen Unterhemd begleitete ihn. Er trug zwei Teller voll mit Reis. Sie sahen fast zu schwer aus für die dünnen Arme des Jungen, aber er hielt sie mit ruhiger Hand fest.
Emma folgte den beiden zu einem Tisch und setzte sich. Der Junge stellte ihnen die
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