Das Herz einer Löwin: Roman (German Edition)
gefunden hatte, fragte er sich bestimmt, woher sie kamen. Sie war hin- und hergerissen zwischen der Hoffnung, dass jemand sich um sie kümmerte, oder dass sie in der Lage waren, für sich selbst zu sorgen.
Sie wollte gerade die Löwenjungen loslassen, als der Lärm wieder lauter wurde. Sie kamen zurück.
Angel erstarrte. Dann blickte sie sich hektisch um. Vielleicht konnte sie ja einen der Steine vor den Eingang schieben. Aber auch die kleineren Brocken sahen viel zu schwer aus, und es würde zu lange dauern. Sie hörte das Flugzeug kreisen, das Motorengeräusch wurde erneut lauter, aber dann beschleunigte es und flog wieder weg.
Langsam entspannte sich Angel. Sie stellte sich vor, wie sich das Flugzeug in die Kurve legte und immer kleiner und kleiner wurde, bis es nur noch ein winziger Punkt am Morgenhimmel war. Sie küsste die drei pelzigen Köpfe.
»Jetzt ist es wirklich weg«, sagte sie beruhigend. »Wir sind außer Gefahr.«
Die Löwenjungen blickten sie aus großen, vertrauensvollen Augen an. Angel lächelte. Sie stellte sich vor, wie die Löwin sie zustimmend beobachtete, und Stolz stieg in ihr auf. Sie hatte ihren Anteil erfüllt, indem sie auf die Jungen aufgepasst hatte, so als gehörte sie zur Löwenfamilie. Mittlerweile konnte sie sich schon gar nicht mehr vorstellen, wie viel Angst sie am Anfang vor den Löwen gehabt hatte – vor allem vor der Löwin, aber auch vor den Jungen. Lebhaft und stark überfiel sie die Erinnerung, während sie dasaß und den warmen Fellgeruch einatmete. Mit zitternden Knien war sie von dem Ort, wo Laura unter den Steinen lag, geflohen. Sie hatte aufgepasst, wohin sie ihre Füße setzte, aus Angst, auf eines der spielenden Jungen zu treten und so den Zorn der Löwenmutter auf sich zu ziehen. Mit einem Schlag ihrer Pranke hätte sie sie niederstrecken können.
Schließlich, als Angel sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, war die Löwin an einer Akazie stehen geblieben. Sie hatte am Boden geschnüffelt und sich dann hingelegt. Die Jungen waren sofort zu ihr hingerannt und hatten angefangen zu trinken. Angel hatte sich danebengehockt und sich den Bauch gehalten, der vor Hunger schmerzte. Sie fühlte sich schwach, und ihr war übel. Ihre Kehle war halb zugeschwollen, ihr Mund und ihre Lippen waren trocken. Sie blickte zu den Jungen und wünschte, sie wäre eines von ihnen. Fliegen setzten sich an ihre Nasenlöcher und Augen, aber sie merkte es kaum. Auch dass sie Kopfschmerzen hatte, war ihr gleichgültig. Der einzige Körperteil, der real zu sein schien, war ihr Bauch, der vor Hunger knurrte.
Als die Löwin sich erhob und ihre Jungen erneut weiterführte, kam Angel kaum auf die Beine. Sie klammerte sich an die Akazie und zerstach sich die Finger.
»Ich kann nicht.«
Sie blickte zu Boden. Sie würde einfach liegen bleiben, dachte sie, liegen bleiben und darauf warten, dass die Hyänen kamen. Sie spürte, wie die Ameisen über ihre Zehen liefen. Es würde nicht schwer sein, einfach aufzugeben.
Aber dann war die Löwin auf einmal hinter ihr – sie stieß sie an und ließ es nicht zu, dass sie liegen blieb.
Angel taumelte weiter. Warum ließ die Löwin sie nicht einfach zurück? Vielleicht hatte sie ihre Gründe, warum sie Angel mitschleppte. Vielleicht war sie ja die Beute und sollte mit zu der Stelle gehen, wo sie als Abendessen verspeist wurde. Ein besonderer Ort für ein besonderes Mahl.
Das Mädchen begann zu lachen, ein hoher Laut, den sie selbst nicht erkannte. Es war eine Erleichterung, sich vorzustellen, dass bald alles vorbei war. Sie brauchte nur einen Fuß vor den anderen zu setzen, und schon würde sie das Ende erreichen.
Ihre trockenen Lippen klebten aufeinander, und als sie sie auseinanderriss, sog sie keuchend die heiße Luft ein. Sie spürte etwas Feuchtes auf den Lippen und schmeckte den salzigen Geschmack von Blut. Spiralnebel tanzten vor ihren Augen.
Dann sah sie auf einmal Wasser schimmern. Vor ihr ragte ein Haufen dunkler Steine auf – wie eine Miniaturstadt aus Steinklötzen.
Sie taumelte weiter, die Augen halb geschlossen, um die Fata Morgana zu vertreiben, aber dann hörte sie plötzlich Wasser rauschen. Die Löwin blieb stehen und beugte den Kopf zu Boden. Unter einem Felsüberhang floss Wasser hervor.
Es schien aus dem Nichts zu kommen und floss zwischen grauen, kahlen Sandbänken dahin. Angel hockte sich neben die Löwin und trank gierig. Jeder Schluck klang laut in ihrem Kopf. Mit beiden Händen spritzte sie sich Wasser ins
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