Das Herz einer Löwin: Roman (German Edition)
Schritt zu tun. Ihre Arme hingen steif herunter, die Hände hatte sie zu Fäusten geballt. Ihr stockte der Atem. Hastig griff sie nach der Taschenlampe, die sie neben die Waschschüssel gelegt hatte, und schaltete sie ein, damit sie nicht plötzlich im Dunkeln stand. Sie trat zwei Schritte auf das Bett zu, blieb dann aber wieder wie erstarrt stehen. Sie konzentrierte sich auf den gelben Strahl der Taschenlampe und zwang sich, langsam zu atmen.
In diesem Moment flackerte die Glühbirne an der Decke und ging dann aus. Das ferne Summen des Generators verstummte. In der Stille, die entstand, hörte man Geräusche von draußen – zwei Vögel, die einander riefen; das Flattern der Motten am Fenster; ein Tier, das mit tapsenden Schritten übers Dach lief.
Emma richtete den Strahl der Taschenlampe auf die Wand und strich suchend darüber, bis sie das Bild fand. Das Licht wurde vom Glas reflektiert, aber sie konnte das blasse, ovale Gesicht trotzdem erkennen. Emma ließ es nicht aus den Augen, als sie – Schritt für Schritt – aufs Bett zuging. Ohne stehen zu bleiben, stieg sie auf die Matratze. Dann band sie das Moskitonetz los und zog es um sich herum, wobei sie die Enden sorgfältig unter der Matratze feststeckte.
Die Taschenlampe neben sich, legte sie sich hin. Der Strahl leuchtete durch das Moskitonetz auf die Fotografie wie eine kleine gelbe Sonne. Sie ließ den Blick über das Bild gleiten, nahm jedes Detail des Gesichts wahr, die Haare, die vollen Wangen. Erneut konzentrierte sie sich auf ihre Atmung – sie spürte, wie die Luft in ihre Lungen drang und der Rhythmus nach und nach langsamer wurde. Ihre Hand lag auf der Taschenlampe. Sie würde sie nicht ausschalten, dachte sie, bis die Batterien leer waren – sie hatte noch Batterien in ihrer Tasche. Sie würde still daliegen und darauf warten, dass der Lichtkreis schwächer würde und schließlich ganz erlöschen würde.
Sie starrte in die Augen des kleinen Mädchens – ihre eigenen Augen in einem jungen Gesicht. Sie strahlten vor Unschuld und Glück. Emma suchte nach einem dunklen Schatten, einer Vorahnung dessen, was kommen würde. Aber sie fand nichts. Während sie dalag und in die klaren Augen des Kindes blickte, ließ ihre Panik langsam nach. Als die Angst aus ihrem Körper gewichen war, kam die Erschöpfung, und innerhalb weniger Augenblicke war sie eingeschlafen.
5
D urch die Spalten zwischen den Felsen sickerte das Morgenlicht und färbte den Boden der Höhle tiefgolden und rosa. Als ein Sonnenstrahl über ihr Gesicht glitt, rührte sich Angel, gähnte und schlug die Augen auf. Eine Spinne hing an einem silbernen Faden von der Steindecke über ihr herunter. Sie beobachtete, wie sie sich langsam drehte. Ihre Augen glitzerten wie winzige Juwelen. Vorsichtig löste sich Angel von den schlafenden Löwenjungen. Sie strahlten Wärme aus, und ihre schweißbedeckte Haut klebte an ihrem Fell. Die Löwin war noch nicht von der nächtlichen Jagd zurückgekehrt; der Platz, wo sie gelegen hatte, war leer. Angel streckte ihre verkrampften Beine aus.
Sie schloss die Augen und wappnete sich gegen die Welle von Trauer, die schon wieder in ihr aufstieg. Sie wusste, was als Nächstes kam – die Alptraum-Bilder von Lauras leblosem Gesicht: der Körper, der schon halb mit Steinen bedeckt war; die gierigen, starren Blicke der Geier … So war es immer, wenn sie erwachte. Es gab nur ein kurzes friedliches Intermezzo, und dann wurde ihr erneut und mit schockierender Härte klar, dass Laura tot war. Bis jetzt war sie schon dreimal mit diesem Gefühl aufgewacht – vielleicht auch viermal, sie hatte kein Gefühl mehr für die Zeit –, aber die Wiederholung milderte das Entsetzen nicht. Im Gegenteil, die Bilder, die sie quälten, wurden eher noch stärker. Angel bemühte sich, sie abzuschütteln. Sie konnte es nicht riskieren, daran zu denken, denn dann würde sie anfangen zu weinen. Und wenn sie erst einmal angefangen hatte, würde sie nicht mehr aufhören können. Das Schluchzen würde sie zerreißen – in winzige, spitze Stücke wie die Scherben eines Tongefäßes.
Sie richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Geräusche des Morgens. Draußen erwachten die Vögel. Sie erkannte das Trillern der Kolibris. Sie stellte sich vor, wie sie auf der Suche nach ihrem Frühstück ihre winzigen, gebogenen Schnäbel tief in das Innere der Wüstenrosen steckten. Auch das fröhliche Zwitschern der Webervögel erkannte sie. Dann hörte sie den Ruf der Massai-Spatzen und
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