Das Herz einer Löwin: Roman (German Edition)
glitt über ein grob gezimmertes Regal, in dem ein Stapel verblichener Journale lag. Daneben stand eine Sammlung leerer Dosen. Sie stellte fest, dass von Ndugus Habseligkeiten kaum etwas zu sehen war. Vielleicht besaß er ja nicht so viel Kleidung und hatte das meiste mitgenommen. Ihr gemeinsames Schlafzimmer mit Simon sah ganz anders aus. Sie besaßen so viele Kleider, dass man es in dem begehbaren Kleiderschrank noch nicht einmal merkte, wenn sie beide mit gepackten Koffern unterwegs waren.
Zufällig glitt ihr Blick über die Fotografie, und sofort wurde sie wieder in ihren Bann gezogen. Das Mädchen hatte so einen lebhaften, freundlichen Ausdruck im Gesicht, als wolle es Emma auffordern, den schönen Tag nicht zu vergeuden. Die Energie übertrug sich auf Emma. Sie stand auf, schlüpfte aus dem geborgten T-Shirt und zog ihre Kleider an. Bei dem Geruch nach Schweiß und Staub rümpfte sie unwillkürlich die Nase. Ob Mosi wohl schon aus dem Dorf zurückgekehrt war? Dann könnte sie ihren Koffer aus dem Land Cruiser holen und ein paar frische Sachen herausholen, bevor sie sich richtig wusch. Sie schlüpfte in ihre Stiefel – vorher schüttelte sie sie aus, falls sich Skorpione darin versteckten, wie es ihr im Reisehandbuch empfohlen worden war – und trat in den Flur.
Dort blieb sie stehen und steckte ihre Bluse in die Hose. Sie blickte auf die Hintertür, die noch geschlossen war. Das Morgenlicht drang durch die Ritzen, und sie hörte, dass Daniel draußen im Hof mit jemandem redete. Wahrscheinlich war Mosi schon da. Trotzdem bewegte sie sich eher zögerlich den Flur entlang. Plötzlich fühlte sie sich Daniel gegenüber unsicher. Von der Nähe, die sie gestern geteilt hatten, würde sicher nichts mehr zu spüren sein – und stattdessen würden sie beide merken, dass sie sich eigentlich fremd waren. Sie lächelte schief. Es erinnerte sie an den Morgen nach einem One-Night-Stand, wenn man sich im kalten Licht des Tages vor dem Fremden, mit dem man geschlafen hatte, noch nicht einmal anziehen konnte. Aber es würde ja zu nichts führen, die Begegnung hinauszuschieben – außerdem würden sie und Daniel nicht allein sein. Entschlossen trat sie auf die Tür zu. Aber auf halbem Weg zur Tür zögerte sie. In Daniels Stimme lag ein scharfer Ton, den sie noch nie zuvor gehört hatte. Er schien jemanden auszuschimpfen.
Zögernd stieß Emma die Tür auf, absichtlich laut, um sich bemerkbar zu machen. Auf der Schwelle blieb sie überrascht stehen. Der Hof war übersät mit Kleidern. Auch Bücher lagen herum. Und ein Daunenschlafsack, der halb aus seiner Hülle gezerrt worden war. Aufgerollte Verbände schlängelten sich wie weiße Schlangen im Staub. Emma erkannte das Batikhemd, das zwischen den anderen Sachen lag. Die Satteltaschen waren leer und lagen ebenfalls auf dem Boden, und daneben stand das junge Kamel. Es schob seine Nase unter eine Baumwollhose und schleuderte sie in die Luft.
Daniel lief herum und sammelte die Sachen ein. Grimmig blickte er Emma an. »Das war das kleine Kamel! Er ist sehr ungezogen!«
Emma schlug die Hand vor den Mund. Sie blickte über den Hof zu der Kamelstute, die das Chaos ruhig kauend beobachtete. Dann wandte sie sich wieder an Daniel. Er schrie das kleine Kamel an und stieß es weg. Ungerührt begann es, auf einem Buch herumzukauen. Daniel warf Emma einen so aufgebrachten Blick zu, dass sie unwillkürlich lächeln musste. Sie bemühte sich zwar, ernst zu bleiben, aber es gelang ihr nicht. Daniel wirkte zuerst irritiert, aber dann musste auch er grinsen. Beide begannen sie zu lachen. Das Kamelkalb ließ das Buch fallen und verzog verwirrt das Gesicht. Darüber mussten sie noch mehr lachen, und es dauerte eine Weile, bis Emma sich wieder so weit gefasst hatte, dass sie Daniel helfen konnte, die Kleider einzusammeln. Sie mussten ausgeschüttelt und vom Staub befreit werden, bevor sie gefaltet und weggepackt werden konnten.
»Ich stelle die Satteltaschen in den Flur«, sagte Daniel und trug einen Stapel Bücher zu dem immer größer werdenden Haufen von Sachen, die sie schon eingesammelt hatten.
Emma ergriff einen runden, flachen Gegenstand, der in ein Tuch eingewickelt war. Sie wog ihn in der Hand. Was mochte das wohl sein? Als sie das Tuch aufknotete, sah sie eine der breiten, scheibenförmigen Ketten, die die Massai-Frauen trugen. Sie war ein kompliziert gearbeitetes Stück mit einem wunderschönen Muster. Emma hielt sie Daniel hin. Er ergriff die Kette und drehte sie andächtig
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