Das Herz einer Löwin: Roman (German Edition)
Gesicht und auf die Haare. Bis zu den Handgelenken tauchte sie die Hände ein.
Als sie schließlich aufstand, war ihr Bauch so voll, dass sie das Wasser bei jeder Bewegung herumschwappen hörte.
Die Löwin legte sich unter eine Akazie, und die Jungen tranken erneut. Gierig saugten sie. Angel hockte in der Nähe unter einem anderen Baum. Als sie den Jungen zusah, vergaß sie die Erleichterung, keinen Durst mehr zu haben, weil der Hunger wie ein unausweichlicher Alptraum zurückkam. Ein Gedanke durchzuckte sie, und sie wandte sich zu dem Baum hinter ihr. Sie riss ein Stück Rinde ab und schälte einen Streifen der hellen Innenhaut heraus. Langsam, wie Zuri es ihr beigebracht hatte, kaute sie ihn.
»Die Jäger essen die Rinde«, hatte er gesagt. »Sie nimmt das Hungergefühl.« Er schwieg, und Angel wusste, dass er an seinen Vater und an seinen großen Bruder dachte. Zwei berühmte Jäger, die von allen wegen ihrer Fähigkeiten bewundert wurden. Aber sie waren beide an der Bluter-Krankheit gestorben, ebenso wie Zuris Mutter. Wenn er beim Ausbruch der Krankheit nicht im Viehlager gewesen wäre, dann wäre er wahrscheinlich ebenfalls gestorben.
Während Angel da saß und kaute, merkte sie auf einmal, dass die Löwin sie mit nachdenklicher Miene beobachtete, als versuche sie zu verstehen, was sie sah. Angel saugte den letzten Rest an Saft aus der Rinde und warf die Fasern weg. Der Hunger war immer noch da, die süße Rinde hatte ihm nur ein wenig von seiner Schärfe genommen.
Eines der Jungen kam zu ihr, das Gesicht mit Milch bespritzt. Es stieß gegen ihre Hände, und als ein Tropfen Milch über Angels Finger rann, leckte sie den Finger, ohne nachzudenken, ab.
Es war zwar nur ein winziger Tropfen, aber Angel schmeckte trotzdem, dass die Milch süß und fett war. Sie erinnerte sie an Mama Kitu.
Bei dem Gedanken an die Kamelstute überkam sie eine andere Art von Hunger. Neben dem verzweifelten Verlangen nach Nahrung sehnte sie sich auf einmal nach dem weichen Kamelfell an ihrer Haut. Sie wollte spüren, wie die samtigen Lippen über ihre Schulter glitten. Sie wollte die Sicherheit eines großen, starken Tieres spüren. Und eine andere Erinnerung überwältigte sie – Lauras Körper auf dem Sattel hinter ihr und sie selbst an die Brust ihrer Mutter gelehnt. Rasch verdrängte sie das Bild. Sie würde nur an die Kamele denken. Und an Zuri.
Fest schloss sie die Augen und flüsterte die Namen. »Mama Kitu. Matata.« Eines Tages würde sie sie finden, sagte sie sich. Oder sie würden sie finden. Sie würde mit ihnen zum Feigenbaum-Dorf reiten. Zuri würde da sein. Er würde sie in seine Hütte einladen – ein Zuhause ohne Erwachsene. Sie würden zwei Waisen sein, die gemeinsam allein waren …
Aber erst einmal musste sie überleben. Und essen.
In diesem Moment stieß die Löwin einen leisen Ruf aus, als ob sie Angels Gedanken spüren könnte. Das Kind kroch auf sie zu, mit abgewandtem Blick. Langsam rutschte es dicht heran, um der Löwin die Chance zu geben, es wegzustoßen. Aber die Löwin berührte Angels Wange liebevoll mit ihrem Maul. Angel drängte sich zwischen die drei trinkenden Jungen an die vierte Zitze und begann zu saugen. Sie benutzte auch die Hand, so wie sie es gelernt hatte, Mama Kitus Euter zu melken. Warme, süße Flüssigkeit drang in ihren Mund und lief ihre Kehle hinunter. Und während sie trank, spürte sie, wie sie neue Kraft bekam.
Als sie schließlich den Kopf hob, blickte sie in das Gesicht der Löwin. Große goldene Augen blinzelten sie an – dann seufzte die Löwin tief und legte sich zur Ruhe.
6
E mma erwachte, als das erste Morgenlicht in das Zimmer drang. Sie fühlte sich seltsam ruhig und ausgeruht nach dem langen, ungestörten Schlaf. Sie wartete, bis die Umrisse der Möbel, des Waschtischs und ihrer Schultertasche, die am Haken hing, deutlich wurden und die Schatten in den Ecken von der aufgehenden Sonne vertrieben worden waren. Erst dann begann sie, sich vorzustellen, wie Susan hier an ihrer Stelle gelegen hatte. Sie versuchte, Bilder und Gefühle heraufzubeschwören, aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Susan blieb vage und fern. Das lag an der Fotografie, dachte Emma. Das Kind lenkte sie ab, weil es ihre Aufmerksamkeit verlangte.
Emma versuchte, das kleine Mädchen zu ignorieren. Entschlossen wandte sie sich ab, blickte sich im Zimmer um und betrachtete einen Stapel staubiger Kartons, auf denen der Name eines pharmazeutischen Unternehmens aufgedruckt war. Ihr Blick
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