Das Herz einer Löwin: Roman (German Edition)
der Wüste verhungern würde.
Angel zog ihre Knie an die Brust und schlang die Arme darum. Zum wiederholten Mal sagte sie sich, dass sie sich jetzt zu den Jungen legen und sich an die Löwin schmiegen sollte. Dort war Trost. Nähe. Wenn Mdogo aufwachte, leckte er immer ihren Arm und gab ihr einen seiner Babyküsse. Aber sie rührte sich nicht. Sie wollte mehr. Sie brauchte jemanden, mit dem sie reden konnte. Es war, als ob alle Worte, die sie nicht aussprechen konnte, sich in ihr aufbauten und zu einem dicken, harten Klumpen wurden. Natürlich redete sie mit den Jungen und manchmal auch mit der Löwin, aber sie verstanden eben nur bestimmte Dinge. Sie lauschte auch den Lauten der Tiere und lernte dabei, welche Laute zu welchem Verhalten gehörten. Aber sie war wie ein Reisender, der versucht, eine ausländische Sprache zu interpretieren; manchmal gelang es ihr, aber meistens verstand sie überhaupt nichts. Sie wusste auch, dass sie die Löwin mit ihrer Unwissenheit manchmal beleidigte. Und ab und zu stiftete sie sogar Unfrieden unter den Jungen.
Es war anstrengend und einsam.
Angel ließ den Kopf auf die Knie sinken und schloss die Augen. Sie fühlte sich schwach und leer, wie die Spelzen an einer Ähre. Sie war wohl doch nicht so hart im Nehmen wie Zuri. Sie war nur ein weißes Mädchen und nicht stark genug, um immer weiterzugehen. Sie war nicht stark genug, um ständig tapfer zu sein. Sie spürte, wie sich ein Schluchzen in ihrer Brust aufbaute und ihr den Atem nahm.
»Angel.«
Sie riss die Augen auf, hob den Kopf und lauschte in die Nacht. Vielleicht hatte sie sich die vertraute Stimme nur eingebildet. Aber dann hörte sie sie erneut, leiser dieses Mal, nicht mehr als ein Seufzen. »Angel …«
Die Löwin regte sich. Angel drehte sich um und sah, dass sie den Kopf gehoben hatte.
Du hast sie auch gehört, dachte Angel. Du hast gehört, wie Laura meinen Namen gerufen hat.
Die Löwin sprang auf. Die Jungen purzelten übereinander, wachten aber nicht auf. Angel blickte hinaus in die Wüste, erstarrt vor Schock. Die Löwin drängte sich an ihr vorbei und trottete hinaus ins Mondlicht.
Angel folgte ihr und bückte sich durch die niedrige Öffnung. Sehnsüchtig blickte sie über die Landschaft.
»Laura! Mama!«, schrie sie. Ihre Stimme hallte laut und hart in die stille Nacht hinein. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Die Löwin stand ganz still, ihr Schwanz schlug von einer Seite zur anderen. Ihren Blick hatte sie auf eine weite Fläche ganz in der Nähe gerichtet. Aber da war nichts – niemand. Angel trat neben sie und beugte sich vor. Das Einzige, was sie sah, war ein kleiner Felsen, an dem ein Busch Wüstenrosen klebte.
Ein Schauer lief Angel über den Rücken. Ängstlich drückte sie sich an die Löwin. Sie konnte die Muskeln unter dem Fell spüren. Die Löwin war wachsam und auf dem Sprung. Sie strahlte Spannung aus wie ein Feuer die Hitze.
Angel lauschte angestrengt, als ob sie nur durch Willenskraft die Stimme, die sie gehört hatte, noch einmal heraufbeschwören könnte. Aber sie hörte lediglich das keuchende Atmen der Löwin und ihren eigenen Herzschlag, der in ihren Ohren widerhallte.
Die Löwin stieß einen leisen, fragenden Laut aus, und nach ein paar Augenblicken ihren hohen Singruf. Sie trat auf der Stelle, als ob sie gerne näher herangegangen wäre, sich aber zurückhielt. Angel beobachtete sie – ihre Bewegungen, den aufmerksamen Ausdruck in ihren Augen –, und sie musste an etwas denken, was sie früher einmal gesehen hatte. In Walaitas Dorf waren sie und Laura an dem heiligen Mann vorbeigekommen, der vor seiner Hütte gesessen und mit jemandem gesprochen hatte, den sie beide nicht sehen konnten.
»Er ist in Trance«, hatte Laura geflüstert, als sie sich respektvoll zurückzogen. »Es heißt, der laibon kann manchmal die Geister von Menschen sehen, die gestorben sind.«
Angel hatte den alten Mann fasziniert und ängstlich beobachtet. Er hatte nicht nur geredet, er hatte auch gestikuliert. Sie hatte nicht einen Moment lang bezweifelt, dass sein unsichtbarer Gefährte real war.
Und jetzt starrte sie auf das Nichts, das den Blick des Tieres fesselte. Sie war sich sicher, dass die Löwin jemanden sehen konnte. Und Angel hatte die Stimme ihrer Mutter gehört.
Laura war da.
»Mama«, flüsterte sie. »Du hast uns gefunden.«
Sie stellte sich die hohe, schlanke Gestalt ihrer Mutter vor, wenn auch nur als Schatten wie in den letzten Momenten der Dämmerung, bevor die schwarze Nacht
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