Das Herz einer Löwin: Roman (German Edition)
Bilder erfüllten ihren Kopf. »Wenn dir etwas zustößt«, sagte sie schließlich, »dann kümmere ich mich selbst um mich. Wie Zuri.«
»Für weiße Kinder ist es nicht dasselbe«, sagte Laura. Ihre Stimme war sanft, aber fest. Sie öffnete den Mund, um mehr zu sagen, aber Angel stand auf und drehte ihr den Rücken zu. Ihr war übel, und sie hatte Angst – aber sie war auch wütend. Laura sollte nicht so reden; sie wollte sich nicht vorstellen, dass ihrer Mutter etwas Schlimmes passieren würde, und sie wollte auch nicht wissen, was dann aus ihr würde. Sie ging ein paar Schritte weg, als ihr plötzlich ein Sprichwort einfiel, das sie im Dorf gelernt hatte. Sie drehte sich um und sagte es Laura. »Unglück hat scharfe Ohren. Wenn du seinen Namen rufst, kommt es.«
Laura hatte das Thema nie wieder erwähnt.
Angel umklammerte den Pass mit beiden Händen und blickte auf Lauras Schrift – vor allem auf das letzte Wort, das mit dicker schwarzer Tinte geschrieben war. England. Laura hatte ihr Geschichten über England erzählt. Dort hatten alle viel Geld, und die Kinder spielten drinnen mit Spielsachen. Die Leute lebten in Städten mit guten Krankenhäusern, aber es gab mehr Fremde als Freunde. Und statt Kamelen gab es Autos …
Angel klappte den Pass zu. Sie legte ihn auf die Handfläche, als wolle sie sein Gewicht beurteilen. Dann schleuderte sie ihn weg. Er flog durch die Luft und landete zwischen zwei Felsen, ein kleiner dunkelroter Fleck auf dem grauen Sand.
Angel zog die Knie an die Brust und schlang die Arme darum. Sie ließ die Stirn auf ihre knochigen Kniescheiben sinken. Sie fühlte sich müde und leer, als ob auch ihr das Leben aus dem Körper gewichen wäre.
Sie stellte sich vor, sie würde für immer hier bleiben. Nur sie und Matata und Mama Kitu. Ihre Familie …
Plötzlich hörte sie Flügel rauschen. Ein großer Vogel schüttelte seine Federn. Als Angel den Kopf hob, schwebte gerade ein zweiter Vogel zu Boden.
Angel starrte auf die Geier. Es waren hässliche Vögel, mit gekrümmten Schnäbeln und halb geschlossenen Augen. Ihr zerrupftes Federkleid ließ sie immer krank aussehen, als ob die ganze Spezies darunter gelitten hätte, dass sie sich ein Leben lang von Kadavern ernährten.
Angel sprang auf und rannte auf sie zu. » Nendeni! Nendeni mbali! Weg! Haut ab!«
Die Vögel breiteten ihre großen Schwingen aus und erhoben sich in die Luft. Kurz darauf jedoch landeten sie wieder, nur ein kleines Stück weiter weg.
Angel blickte zu Laura. Sie wusste, dass noch mehr Geier kommen würden. Und letztendlich würde sie sie nicht alle vertreiben können. Angel blickte zu den Kamelen. Wenn es ihr irgendwie gelingen würde, Laura auf Mama Kitu zu manövrieren, dann konnte sie sie mit zur manyata nehmen. Aber auch davon würden sich die Geier nicht abhalten lassen. Dann würden sie eben auf das Kamel herunterstoßen, und selbst Mama Kitu würde in Panik geraten und davonlaufen.
Plötzlich kam ein dritter Geier und setzte sich auf Lauras Brust. Angel rannte hin und schwenkte die Arme. Aber wie die anderen Geier zog auch er sich nur ein bisschen zurück und ließ sich auf dem Felsen nieder.
Rasch breitete Angel den kitenge aus, schlang ein Ende um Lauras Füße und zog das andere zum Kopf. Sie zögerte kurz, bevor sie das Gesicht bedeckte. Mit einer Hand schob sie eine Haarsträhne zurück, die an Lauras Wange klebte. Ihre Tränen fielen auf die blasse Haut. Dann zog sie das Tuch über das Gesicht und strich es glatt. Schließlich erhob sie sich und begann, Steine zu sammeln, um sie über die Leiche zu legen.
Die Hitze des Tages hatte nachgelassen, und es lagen viele Steine herum – aber trotzdem war es harte Arbeit. Das rauhe Vulkangestein rieb wie Sandpapier an Angels Haut. Jeden einzelnen Stein untersuchte sie auf Skorpione und Schlangen. Die Geier ließen sie und die Leiche nicht aus den Augen und hockten neben dem behelfsmäßigen Grab. Schließlich war nichts mehr von dem Stoff zu sehen, aber Angel legte noch mehr Steine darauf, damit die Leiche geschützt war.
Die Geier kreischten und schlugen mit den Flügeln, als ob sie außer sich vor Wut wären. Angel, die immer noch am Grabhügel hockte, erstarrte. Geier griffen manchmal Menschen an, das wusste sie. Vielleicht nicht gerade einen starken, gesunden Erwachsenen, aber ein kleines Kind, das sich nicht wehren konnte …
Du bist nicht klein, flüsterte eine eigensinnige Stimme in ihrem Kopf. Du bist älter als Zuri, der allein die Rinder
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