Das Herz einer Löwin: Roman (German Edition)
angenommen – verschiedene Grauschattierungen. Selbst das Grün der Bäume und Büsche lag unter einer grauen Staubschicht. Die einzigen Farbflecke waren die hellrosa Wüstenrosen, die aus seltsam aussehenden Büschen ohne Blätter sprossen.
Angel starrte ausdruckslos über das aschgraue Land, als Laura sich plötzlich regte. Das Mädchen fuhr herum und blickte forschend in das Gesicht der Kranken. Laura runzelte die Stirn. Ihre Lippen bewegten sich. Sie sah aus wie jemand, der verzweifelt versucht, aus den Tiefen eines schlammigen Teichs an die Oberfläche – zum Licht – zu schwimmen. »Angel?«
Ihre Stimme klang drängend. Angel beugte sich vor. »Ich bin hier, Mama.« Sie wartete darauf, dass Laura noch etwas sagte, aber es kam nichts mehr. Sie begann, Laura über die Haare zu streichen, so wie Laura es oft bei ihr getan hatte, wenn sie krank gewesen war und Fieber gehabt hatte. Zu den Bewegungen ihrer Hand gehörte ein Lied, und als Angel Text und Melodie wieder einfielen, begann sie, leise zu singen.
Lala salama, mtoto. Schlaf jetzt, mein Kleines. Wenn du wieder aufwachst, werden wir weitersehen.
Es hatte viele Strophen – jede beschrieb die Tiere, die Vögel und die Leute, die zum Leben eines Babys gehörten. Angel sang alle Strophen und fing dann wieder von vorn an. Auch als Lauras Atem nur noch stoßweise kam und rauh wurde, sang sie einfach weiter.
Tränen liefen Angel übers Gesicht. Sie schmeckte das Salz auf den Lippen. Bald schon schluchzte und sang sie zugleich, aber sie hörte nicht auf. Wenn sie weitersang, sagte sie sich, würde Laura auch weiteratmen.
Doch trotz des Singens hörte sie, wie Lauras Atem immer flacher wurde. Schließlich wurde ihr Keuchen zu einem Wispern. Und dann nur noch ein ganz schwacher Seufzer.
Angel erstarrte. Ihre Finger lagen auf Lauras Haaren, die verschwitzt und von grobem Sand bedeckt waren. Sie hielt den Atem an und wartete. Aber sie hörte nur das Rascheln des Windes in den Büschen und den fernen Schrei eines Raben.
Langsam senkte sie den Kopf und drückte ihre Wange auf die Brust ihrer Mutter. Sie schloss die Augen und lauschte auf den Herzschlag. Aber da war nur Stille. Nichts.
Ein Windstoß riss an dem Sonnenschutz, und das Ende des kitenge flatterte unter den Steinen hervor, die den Stoff auf dem Felsen hielten. Angel packte ihn gerade noch rechtzeitig, bevor er davonflog. Sie legte sich den Stoff um die Schultern und schnupperte an dem schwachen Duft, den er verströmte. Weihrauch – Lauras Lieblingsduft. Ihr war klar, dass sie eigentlich mit Mama Kitu und Matata sofort zur manyata aufbrechen musste, solange noch genügend Tageslicht vorhanden war. Aber sie wollte nicht. Wieder hatte sie das Gefühl, dass die Zeit stillstehen und das Leben so weitergehen würde wie bisher, wenn sie sich nicht bewegen würde.
Sie griff in die Tasche ihrer Tunika und holte den Pass heraus. Sie wusste, was in dem kleinen Buch war – ab und zu hatte sie es sich anschauen dürfen. Für gewöhnlich schlug sie sofort die Seite mit dem kleinen Foto von Laura auf – sie fand es interessant, wie anders sie aussah, mit ordentlichen, kurzgeschnittenen Haaren, mit Lippenstift und einer Kette wie die der Safari-Frauen. Jetzt jedoch beachtete Angel das Bild kaum, auch nicht die Sammlung hübscher bunter Stempel. Sie blätterte zur letzten Seite des Passes und las, was Laura dort mit der Hand hingeschrieben hatte.
James Kelly, 26 Brading Ave, Southsea, Hampshire, England.
James war Lauras Bruder, das wusste Angel. Er war nie in Afrika gewesen, deshalb kannte Angel ihn nicht. Er hatte ihr allerdings einmal ein Geschenk geschickt – eine wunderschöne Puppe, die jedoch so zerbrechlich war, dass niemand damit spielen konnte. Eines Tages hatte Laura plötzlich von ihm erzählt. Angel war damals noch kleiner gewesen, aber sie konnte sich noch gut an das Gespräch erinnern. Sie hatten auf dem Boden der Veranda bei den Barmherzigen Schwestern gesessen und auf Lebensmittel gewartet.
»Er ist nicht verheiratet und hat keine Kinder«, sagte Laura. »Er wohnt in einem wunderschönen Haus am Meer.«
Sie machte so ein ernstes Gesicht, dass Angel begann, sich unwohl zu fühlen. »Warum erzählst du von ihm?«, fragte sie.
»Wenn mir je etwas zustoßen sollte, wird sich James um dich kümmern. Ich habe ihn gebeten, mir das zu versprechen – weil du weder einen baba noch eine bibi hast; keinen Vater und keine Großmutter.«
Angel saß ganz still da; schmerzliche Gedanken und
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