Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
man ihnen nicht in tragischer Weise – wie in Deutschland – ihr Hab und Gut in großem Maßstab gestohlen hat, so liegt das allein daran, dass die Neger von Anfang an keinerlei Reichtum erwerben durften.«
»Das ist eben das System«, sagte Jake.
»Juden und Neger«, sagte Doktor Copeland bitter. »Die Geschichte meines Volkes hat viel Ähnlichkeit mit dem unendlichen Leidensweg der Juden – nur ist sie noch blutiger und noch gewalttätiger. Wie bei bestimmten Seemöwen. Wenn man eine von ihnen fängt und ihr einen roten Faden ums Bein bindet, dann hacken die andern sie tot.«
Doktor Copeland nahm seine Brille ab, zog das Drähtchen an einem zerbrochenen Scharnier fest und putzte die Gläser an seinem Nachthemd. Er war so aufgeregt, dass seine Hände zitterten. »Mr. Singer ist Jude.«
»Nein, da irren Sie sich.«
»Ich weiß es genau. Schon der Name ›Singer‹. Gleich beim ersten Mal habe ich es ihm angesehen. An den Augen. Außerdem hat er’s mir gesagt.«
»Nein, das ist unmöglich«, widersprach Jake. »Ich lass mich hängen, wenn der nicht ganzer Angelsachse ist. Irisch angelsächsisch.«
»Aber…«
»Ich bin sicher. Ganz bestimmt.«
»Nun gut«, sagte Doktor Copeland. »Wir wollen nicht streiten.«
Die Luft draußen hatte sich abgekühlt; im Zimmer wurde es kühl. Es war kurz vor Tagesanbruch. Der seidige Frühhimmel war tiefblau, und der silberne Mond verblasste. Ringsum war es still, nur ein Frühlingsvogel sang in der Dunkelheit sein einsames Lied. Trotz des schwachen Luftzugs vom Fenster her war die Luft im Zimmer schal. Sie waren gleichermaßen angespannt und erschöpft. Doktor Copeland hatte sich vorgebeugt. Seine Augen waren gerötet, seine Hände in die Bettdecke verkrallt. Das Nachthemd war ihm von den knochigen Schultern gerutscht. Jake hatte die Füße auf die Querleiste des Stuhls gestellt und die Hände wie ein Kind erwartungsvoll zwischen den Knien gefaltet. Tiefe, schwarze Ringe lagen unter seinen Augen, und sein Haar war zerzaust. Sie sahen einander an und warteten. Je länger das Schweigen währte, umso unerträglicher wurde ihre Anspannung.
Endlich räusperte sich Doktor Copeland und sagte: »Ich darf wohl annehmen, dass Sie nicht grundlos hierhergekommen sind. Wir haben doch wohl nicht zufällig die ganze Nacht über diese Dinge diskutiert. Alles haben wir besprochen, nur das Entscheidende nicht: den Ausweg. Das, was zu tun ist.«
Immer noch sahen sie einander gespannt an. Aus beiden Gesichtern sprach die Erwartung. Doktor Copeland saß kerzengerade im Bett. Jake stützte das Kinn in die Hand und beugte sich vor. Das Schweigen zog sich in die Länge. Dann begannen sie gleichzeitig zögernd zu sprechen.
»Verzeihung«, sagte Jake. »Sie sind dran.«
»Nein, Sie. Sie haben zuerst angefangen.«
»Reden Sie nur weiter.«
»Nein, nein«, sagte Doktor Copeland. »Fahren Sie fort.« Jake starrte ihn mit geheimnisvoll umflortem Blick an. »Ich seh das so: Die einzige Lösung ist, dass die Menschen wissend werden. Wenn sie erst mal die Wahrheit kennen, kann man sie nicht länger unterdrücken. Wenn nur die Hälfte aller Menschen die Wahrheit kennt, ist der Kampf schon gewonnen.«
»Ja, wenn sie erst einmal die Struktur dieser Gesellschaft durchschauen. Aber was schlagen Sie vor? Wie soll man es ihnen beibringen?«
»Hören Sie zu«, sagte Jake. »Sie kennen doch diese Kettenbriefe. Wenn einer an zehn Leute schreibt, und jeder von den zehn schreibt wieder an zehn Leute…, verstehen Sie?« Er stockte. »Ich werde zwar keine Briefe schreiben, aber die Idee ist die gleiche. Ich geh einfach rum und red mit den Leuten. Und wenn ich in einer Stadt bloß zehn Unwissenden die Wahrheit beibringen kann, dann, find ich, ist schon viel geschafft. Verstehen Sie?«
Doktor Copeland blickte Jake überrascht an. Dann prustete er los. »Seien Sie doch nicht kindisch. Sie können doch nicht einfach herumlaufen und reden. Kettenbriefe – du lieber Gott! Unwissende und Wissende!«
Jakes Lippen zitterten, wütend runzelte er die Stirn. »Und was haben Sie zu bieten?«
»Zuerst möchte ich Ihnen sagen, dass ich über diese Frage früher ganz ähnlich gedacht habe. Ich habe aber lernen müssen, wie falsch diese Einstellung ist. Ein halbes Jahrhundert lang hielt ich Geduld für das Klügste.«
»Von Geduld hab ich nicht geredet.«
»Auf Gewalt reagierte ich mit Vorsicht. Bei jedem begangenen Unrecht blieb ich ruhig. Ich opferte das Erreichbare einem hypothetischen großen Ziel. Ich habe an
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