Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
Arbeitstag. Überall herrscht Aussatz oder Anämie, oder sie haben den Hakenwurm. Und Hungersnot – richtige Hungersnot. Aber…« Jake rieb sich mit den schmutzigen Fingerknöcheln über die Lippen. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. »Aber…«, wiederholte er. »Das sind bloß die sichtbaren, die greifbaren Schäden. Da gibt’s noch viel Schlimmeres. Ich meine die Art und Weise, wie sie die Leute beschwindeln. Was sie ihnen alles einreden, bloß damit sie nicht sehn, wie es wirklich ist. Wie sie sie mit ihren Lügen vergiften. Die Leute sollen einfach nichts wissen.«
»Und dann die Neger«, sagte Doktor Copeland. »Wenn Sie wissen wollen, wie es bei uns aussieht, dann müssen Sie…«
Aber Jake war nicht zu halten. »Wem gehört denn der Süden?«, unterbrach er ihn. »Drei Viertel der gesamten Südstaaten gehören irgendwelchen Konzernen in den Nordstaaten. Wie heißt es? Die alte Kuh grast alles ab – den Süden, Westen, Norden und Osten. Gemolken wird sie aber nur an einer Stelle. Immer wenn sie richtig voll ist, baumeln ihre alten Zitzen ausgerechnet über einem Fleck: über New York. Da wird sie gemolken – aber vollfressen tut sie sich überall. Nehmen Sie unsre Baumwollspinnereien, unsre Papiermühlen, unsre Leder- und Matratzenfabriken. Alles gehört den Unternehmern im Norden. Und was weiter?« Jakes Schnurrbart zitterte vor Wut. »Nur ein Beispiel: Locale! Eine Fabriksiedlung nach dem großartigen, treusorgenden System der amerikanischen Industrie. Aber die Besitzer sitzen sonstwo. Der Ort besteht aus ’ner riesigen Ziegelei und aus vier- bis fünfhundert Bruchbuden. Häuser, in denen kein menschliches Wesen wohnen kann. Mehr noch: Sie haben’s von Anfang an als Elendsquartiere geplant. So ’ne Bude hat zwei, vielleicht drei Zimmer und ’nen Abtritt und ist mit viel weniger Nachdenken gebaut wie ’n Viehstall. Sogar Schweine leben besser. In diesem System sind Schweine viel wertvoller als Menschen. Denn aus den abgemagerten Fabrikarbeiterkindern kann man weder Koteletts noch Wurst machen. Von den Leuten da macht sich heute höchstens die Hälfte bezahlt, ein Schwein dagegen…«
»Halt!«, sagte Doktor Copeland. »Sie schweifen ab. Außerdem haben Sie die besondere Bedeutung der Negerfrage nicht berücksichtigt. Ich komme überhaupt nicht mehr zu Wort. Das alles haben wir vorhin schon besprochen. Man kann aber die Gesamtlage unmöglich richtig sehen, wenn man uns Neger außer acht lässt.«
»Bleiben wir bei unserer Fabriksiedlung«, beharrte Jake. »Ein Jungarbeiter bekommt – sofern er Arbeit findet – den fabelhaften Lohn von acht bis zehn Dollar die Woche. Er heiratet, und nach dem ersten Kind muss auch die Frau in die Fabrik gehn. Ihr Wochenlohn beträgt zusammen – na, sagen wir achtzehn Dollar –, vorausgesetzt, dass beide Arbeit haben. Ein Viertel davon geht für die Bruchbude drauf, die der Betrieb ihnen zur Verfügung stellt. Lebensmittel und Kleidung kaufen sie in einem Laden, der ganz oder teilweise dem Konzern gehört und in dem sie jedes Stück teurer bezahlen müssen als anderswo. Und wenn sie’s auf drei oder vier Kinder gebracht haben, leben sie in solcher Unterdrückung, als lägen sie in Ketten. Was ist das? Leibeigenschaft, nichts anderes! Und dabei behaupten wir, freie Amerikaner zu sein. Und das Allerkomischste ist: Allen Landarbeitern und Fabrikarbeitern und allen andern haben sie das so lange eingebleut, dass die wirklich glauben, es wär so. Aber sie haben ’ne ganz hübsche Portion zusammengelogen, damit die nichts merken!«
»Es gibt nur einen Ausweg…«, warf Doktor Copeland ein.
»Zwei Auswege. Und auch nur diese beiden. Es hat mal ’ne Zeit gegeben, da war unser Land im Aufwind. Da glaubte jeder, er hätte ’ne Chance. Ha! Die Zeiten sind vorbei – für immer vorbei. Weniger als hundert Konzerne haben alles geschluckt, da ist nicht viel übriggeblieben. Diese Industrie hat die Leute bis aufs Blut ausgesaugt. Die guten alten Zeiten des Aufschwungs sind vorbei. Das ganze System der kapitalistischen Demokratie ist – verkommen und korrupt. Uns bleiben bloß zwei Wege: Faschismus oder radikale Neuordnung, und zwar eine revolutionäre, dauerhafte Neuordnung.«
»Und die Neger. Vergessen Sie die Neger nicht. Für mich und mein Volk sind die Südstaaten immer faschistisch gewesen, und sie sind es noch.«
»Genau.«
»Die Nazis berauben die Juden ihrer Rechte, ihres Geldes und ihrer Kultur. Bei den Negern hier ist das schon immer so gewesen. Und wenn
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