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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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die Bemerkung erlaubt, dass Ihr Plan verrückt ist. Ich bin heut Abend mit einer viel besseren Idee gekommen. Ich wollte Ihren Sohn Willie und die beiden andern dazu bringen, sich von mir im Wagen rumfahren zu lassen: Sie sollten erzählen, was die mit ihnen gemacht haben, und hinterher wollt ich erzählen, warum sie das gemacht haben. Mit andern Worten: Ich wollte über die Dialektik des Kapitalismus reden – und seine ganze Verlogenheit zeigen. Ich wollte erklären, warum den Jungs die Beine abgenommen wurden, damit jeder das begreift. Jeder, der die drei gesehn hat, sollte wissen. «
    »Pah! Und noch einmal pah!«, rief Doktor Copeland wütend. »Sie haben wohl den Verstand verloren! Wenn ich mir nicht zu schade dazu wäre, würde ich weiß Gott wie lachen. Noch nie ist mir ein derartiger Unsinn untergekommen!«
    Bitter enttäuscht und wütend starrten sie einander an. Draußen auf der Straße ratterte ein Wagen vorbei. Jake schluckte und biss sich auf die Lippen. »Ha!«, sagte er schließlich. »Hier ist bloß einer verrückt – und zwar Sie! Sie stellen ja alles auf den Kopf. Die Negerfrage im kapitalistischen Staat kann überhaupt nur so gelöst werden, dass jeder Einzelne von fünfzehn Millionen Schwarzen in den Staaten kastriert wird.«
    »So – das verbirgt sich hinter Ihrem ganzen Gerede von Gerechtigkeit!«
    »Ich hab nicht gesagt, dass man’s machen soll. Ich hab bloß gesagt, Sie sehn den Wald vor lauter Bäumen nicht.« Jake sprach jetzt langsam und gewählt. »Von Grund auf muss man anfangen. Die alten Traditionen müssen zertrümmert und durch neue ersetzt werden. Wir müssen eine völlig neue Welt schmieden. Wir müssen die Menschen zu Geschöpfen mit sozialem Bewusstsein erziehen, zu Menschen, die in einer geordneten, kontrollierten Gesellschaft leben, in der sie nicht gezwungen sind, Unrecht zu tun, um überleben zu können. Eine soziale Tradition, in der…«
    Doktor Copeland applaudierte ironisch. »Ausgezeichnet! Aber erst muss man die Baumwolle pflücken, dann kann man den Stoff weben. Sie mit Ihren faulen, überspannten Theorien können…«
    »Seien Sie doch still! Wem liegt was dran, ob Sie und Ihre tausend Neger sich bis zu diesem stinkenden Jauchehaufen namens Washington durchschlagen? Was ändert das schon? Was liegt an ein paar Menschen – an ein paar tausend Menschen, schwarzen oder weißen, guten oder bösen? Wo doch unsre ganze Gesellschaft auf einem Fundament aus dreckigen Lügen gründet…«
    »Alles liegt daran!«, keuchte Doktor Copeland. »Alles! Alles!«
    »Nichts!«
    »Die Seele des Niedrigsten und des Verworfensten auf dieser Erde ist im Lichte der Gerechtigkeit mehr wert als…«
    »Zum Teufel damit!«, rief Jake. »Alles Quatsch!«
    »Lästerer!«, kreischte Doktor Copeland. »Elender Gotteslästerer!«
    Jake rüttelte an der eisernen Bettstelle. Seine Stirnader war zum Bersten geschwollen, und sein Gesicht war dunkelrot vor Zorn. »Kurzsichtiger Frömmler!«
    »Weißer…«, Doktor Copeland versagte die Stimme. Er rang vergeblich um einen Ton. Schließlich brachte er in ersticktem Flüstern heraus: »…Teufel!«
    Im Fenster stand das goldene Morgenlicht. Doktor Copelands Kopf fiel aufs Kissen zurück. Sein Hals verdrehte sich, auf seinen Lippen stand blutiger Schaum. Jake sah ihn noch einmal an, dann stürzte er heftig schluchzend aus dem Zimmer.
    14
     
    Sie hielt es in der inneren Welt nicht mehr aus. Sie musste immer unter Menschen sein, musste ständig etwas zu tun haben. Wenn sie allein war, zählte oder rechnete sie. Sie zählte die Rosen auf der Wohnzimmertapete und berechnete den Rauminhalt des ganzen Hauses. Sie zählte die einzelnen Grashalme im Hinterhof oder die Blätter eines Strauches. Sobald sie nicht auf Zahlen konzentriert war, überkam sie diese entsetzliche Angst. Wenn sie an diesen Mainachmittagen von der Schule nach Hause ging, nahm sie sich vor, an etwas Aufmunterndes zu denken. An irgendetwas Schönes – an etwas sehr Schönes. Etwa an eine wilde Jazzmelodie. Oder dass zu Hause im Kühlschrank eine Schüssel mit Pudding für sie bereit stünde. Oder wie sie hinter dem Kohlenschuppen eine Zigarette rauchte. Dass sie in ferner Zukunft in den Norden fahren würde, um sich dort den Schnee anzusehen, oder in fremde Länder reiste. Aber diese Gedanken an schöne Dinge waren nicht von Dauer. In fünf Minuten war die Süßspeise aufgegessen, war die Zigarette geraucht. Was dann? Die Zahlen in ihrem Kopf gerieten durcheinander, und bis zum Schnee und

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