Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
drei Dollar die Woche kriegen, aber manchmal fehlt Mrs. Kelly ein Dollar oder fünfzig Cent, und dann kann sie mir nicht das Ganze geben. Natürlich gibt sie mir dann den Rest vom Geld, sobald sie kann. Aber manchmal bin ich schon knapp bei Kasse.«
»Das ist nicht gut«, sagte Doktor Copeland. »Warum lässt du dir das gefallen?«
»Es ist nicht ihre Schuld. Sie kann nichts dafür«, sagte Portia. »Die Hälfte der Leute im Haus zahlen die Miete nicht, und es macht Riesenkosten, das alles in Gang zu halten. Ehrlich gesagt: Die Kellys stehen immer mit einem Fuß im Gefängnis. Sie haben es mächtig schwer.«
»Es muss sich doch eine andere Arbeit finden lassen.«
»Ja, ich weiß. Aber die Kellys sind wirklich die großartigsten weißen Leute, für die man arbeiten kann. Ich hab sie richtig lieb. Die drei Kleinen sind für mich wie meine eigenen Kinder, als hätte ich Bubber und das Baby selber aufgezogen. Und Mick und ich, wir kriegen uns zwar ständig in die Haare, aber trotzdem hab ich sie lieb.«
»Du solltest aber auch an dich selber denken«, sagt Doktor Copeland.
»Also, diese Mick…«, sagte Portia. »Die ist wirklich ein Fall für sich. Keiner weiß, wie man mit ihr umgehen soll. So verdreht und störrisch, wie die ist. Irgendwas geht in ihr vor, die ganze Zeit. Ich hab ein komisches Gefühl bei dem Kind. Mir scheint, eines Tages wird man ’ne wirklich große Überraschung mit ihr erleben. Aber ich habe keine Ahnung, ob das dann ’ne gute oder schlechte Überraschung geben wird. Manchmal werde ich gar nicht schlau aus Mick. Aber lieb hab ich sie trotzdem.«
»Zuallererst solltest du dich aber um dein eigenes Leben kümmern.«
»Wie gesagt: Ist ja nicht Mrs. Kellys Schuld. Das große, alte Haus kostet so viel, und die Miete wird einfach nicht bezahlt. Ist bloß einer im Haus, der ordentlich für sein Zimmer zahlt, und immer pünktlich. Und der wohnt noch gar nicht lange da. Einer von diesen Taubstummen. Der erste Taubstumme, den ich aus der Nähe gesehen hab – aber ein richtig vornehmer weißer Mann.«
»Groß, dünn, mit graugrünen Augen?«, fragte Doktor Copeland plötzlich. »Und immer höflich zu jedermann und sehr fein gekleidet? Nicht wie einer aus der Stadt hier – mehr wie einer aus dem Norden oder vielleicht ein Jude?«
»Das ist er«, sagte Portia.
Doktor Copelands Miene war jetzt sehr interessiert. Er zerkrümelte seine Maisplätzchen in die Kohlbrühe und begann mit Appetit zu essen. »Ich habe einen taubstummen Patienten«, sagte er.
»Woher kennst du Mr. Singer?«, fragte Portia.
Doktor Copeland hustete und hielt sich das Taschentuch vor den Mund. »Ich habe ihn nur ein paarmal gesehen.«
»Ich räum jetzt lieber auf«, sagte Portia. »Höchste Zeit für Willie und meinen Highboy. Aber bei dem großen Waschbecken bin ich im Nu mit dem bisschen Geschirr fertig.«
Schon seit Jahren versuchte er nicht mehr über die Unverschämtheit der weißen Rasse nachzudenken. War er doch nah dran, sich zu ereifern, vertiefte er sich umso mehr in seine Studien. Auf der Straße und in Gegenwart von Weißen bewahrte er stets seinen Gleichmut und seine Ruhe. Als er noch jung war, riefen sie ihn ›Boy‹ – jetzt aber hieß es ›Onkelchen‹. »Onkelchen, lauf mal zur Tankstelle an der Ecke und schick mir einen Mechaniker.« Das hatte ihm kürzlich ein Weißer in einem Wagen zugerufen. »Boy, fass mal hier an.« – »Onkelchen, mach mal das.« Er hörte nicht hin, er ging schweigend und würdevoll weiter.
Vor wenigen Tagen war ein betrunkener Weißer auf ihn zugekommen und hatte ihn die Straße entlanggezerrt. Er hatte seine Arzttasche bei sich und nahm an, es handle sich um einen Unfall. Aber sie landeten schließlich im Restaurant eines Weißen, und die weißen Männer an der Theke hatten ihr unverschämtes Gejohle angestimmt. Er wusste, dass der Betrunkene sich über ihn lustig machte. Aber selbst da hatte er seine Würde bewahrt.
Aber mit diesem großen, dünnen Weißen mit den graugrünen Augen hatte er etwas erlebt, was er noch nie mit einem Weißen erlebt hatte.
Es war an einem dunklen, regnerischen Abend vor einigen Wochen gewesen. Er kam von einer Entbindung und stand nun im Regen an einer Straßenecke. Er hatte sich eine Zigarette anzünden wollen, aber ein Streichholz nach dem andern war ihm ausgegangen. Während er so mit der kalten Zigarette im Mund dastand, trat der Weiße auf ihn zu und hielt ihm ein brennendes Streichholz hin. Über das Flämmchen hinweg sahen
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