Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
Vom Netzwerk:
sie einander in die Augen. Der Weiße lächelte ihm zu und zündete ihm die Zigarette an. Er wusste nicht, was er sagen sollte; noch nie hatte er etwas Ähnliches erlebt. Sie standen einige Minuten zusammen an der Straßenecke, dann gab der Weiße ihm seine Karte. Er hätte gern mit ihm geredet und ihn einiges gefragt, aber er war nicht sicher, ob der andere das richtig auffassen würde. Die Unverschämtheit aller weißen Menschen ließ ihn befürchten, dass er mit einem freundlichen Wort seine Würde aufs Spiel setzen würde.
    Trotzdem: Der Weiße hatte ihm Feuer gegeben, er hatte gelächelt und schien gern mit ihm zusammen zu sein. Seitdem musste er viel über diese Begegnung nachdenken.
    »Ich habe einen taubstummen Patienten«, sagt Doktor Copeland zu Portia. »Einen fünfjährigen Jungen. Irgendwie komme ich nicht darüber hinweg, dass ich seine Krankheit mit verschuldet habe. Ich habe ihn zur Welt gebracht, und nach zwei Besuchen bei der Wöchnerin habe ich nicht mehr an ihn gedacht. Er bekam Ohrenschmerzen, aber die Mutter nahm den eitrigen Ausfluss nicht sonderlich ernst und kam nicht mit ihm in meine Sprechstunde. Als ich schließlich davon erfuhr, war es zu spät: Er hat sein Gehör verloren und kann deswegen auch nicht sprechen. Aber ich habe ihn sorgfältig beobachtet, und mir scheint, unter normalen Umständen wäre er ein sehr kluges Kind.«
    »Du hast immer viel Interesse für kleine Kinder gehabt«, sagte Portia. »Dir liegt sehr viel mehr an ihnen als an den Erwachsenen, oder?«
    »In einem kleinen Kind ist mehr Hoffnung«, sagte Doktor Copeland. »Aber dieser taube Junge – ich hatte vor, mich nach einer Einrichtung zu erkundigen, die ihn vielleicht nehmen würde.«
    »Mr.   Singer kann dir das sagen. Er ist wirklich ein lieber weißer Mann und nicht ein bisschen verdreht.«
    »Ich weiß nicht…«, sagte Doktor Copeland. »Ich habe schon daran gedacht, ihm ein paar Zeilen zu schreiben und ihn danach zu fragen.«
    »Sicher, das würde ich auch an deiner Stelle machen. Du bist ein großartiger Briefschreiber, und ich bringe Mr.   Singer den Brief für dich. Vor zwei, drei Wochen kommt er in die Küche und bringt mir ein paar Hemden zum Auswaschen. Die Hemden waren so sauber, als hätte Johannes der Täufer selber sie getragen. Ich musste sie bloß in warmes Wasser tauchen, am Kragen ’n bisschen schrubben und nachher bügeln. Aber dann abends, wie ich die fünf sauberen Hemden auf sein Zimmer bring – was glaubst du, wie viel er mir gibt?«
    »Wie viel denn?«
    »Er lächelt wie immer und gibt mir einen Dollar. Einen ganzen Dollar für das bisschen Hemdenwaschen. Wirklich ein lieber, freundlicher Weißer, und ich würd keine Angst haben, ihn was zu fragen. Ich würd diesem netten weißen Mann sogar selber einen Brief schreiben. Mach’s einfach gleich, wenn dir danach ist.«
    »Ja, vielleicht«, sagte Doktor Copeland.
    Portia richtete sich plötzlich auf und ordnete ihr geöltes Haar. Man hörte erst schwach, dann allmählich lauter den Klang einer Mundharmonika. »Da kommen Willie und Highboy«, sagte Portia. »Ich muss jetzt zu ihnen raus. Nun pass schön auf dich auf, und gib Bescheid, wenn du mich für irgendwas brauchst. War sehr schön, mit dir zu essen und zu reden.«
    Die Mundharmonika war nun ganz deutlich zu hören. Offenbar wartete Willie bereits an der Gartentür.
    »Einen Moment noch«, sagte Doktor Copeland. »Ich habe deinen Mann nur zweimal mit dir gesehen, ich glaube, wir haben uns nie richtig kennengelernt. Und William ist seit drei Jahren nicht mehr hier bei seinem Vater gewesen. Willst du sie nicht bitten, einen Moment hereinzukommen?«
    Portia stand in der Tür und machte sich an ihrem Haar und an den Ohrringen zu schaffen. »Letztes Mal, als Willie hier war, hast du ihm sehr weh getan. Siehst du, du verstehst einfach nicht…«
    »Schon gut«, sagte Doktor Copeland. »Es war nur eine Idee.«
    »Warte«, sagte Portia. »Ich sag ihnen gleich, sie sollen reinkommen.«
    Doktor Copeland zündete sich eine Zigarette an und ging in der Küche auf und ab. Seine Brille wollte nicht richtig sitzen, und seine Finger hörten nicht auf zu zittern. Er hörte im Vorgarten gedämpfte Stimmen, dann schwere Schritte in der Diele. Portia, William und Highboy kamen in die Küche.
    »Hier sind wir«, sagte Portia. »Highboy, ich glaub, ich hab dich meinem Vater nie richtig vorgestellt. Aber ihr wisst ja beide, wer der andere ist.«
    Doktor Copeland schüttelte beiden die Hand. Willie drückte

Weitere Kostenlose Bücher