Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
Party.
»Au, fein! Bowle!«
»So ein schickes Kleid…«
»Sag mal, hast du das schon raus, ein Dreieck sechsundvierzig zu zwanzig…«
»Lass mich mal durch! Geh mal aus dem Weg!«
Ununterbrochen ging die Tür auf und zu, während die Kinder ins Haus strömten. Schrille und sanfte Stimmen schwirrten durcheinander, bis irgendwann nur noch ein einziges Brausen zu hören war. Die Mädchen in ihren feinen langen Abendkleidern standen grüppchenweise beieinander, während die Jungs in hellen Leinenhosen oder in neuen dunklen Herbstanzügen herumschlenderten. Es war ein solches Hin und Her, dass Mick keins der Gesichter und keinen Gast einzeln wahrnahm. Sie stand an der Garderobe und sah die Party als ein Ganzes. »Jetzt holt sich jeder seine Promenadenkarte und lässt sich eintragen.« Keiner hörte zu; es war zu laut im Zimmer. Die Jungen standen so dicht gedrängt vor der Bowle, dass man überhaupt nichts mehr vom Tisch und von den Weinranken sah. Nur das lächelnde Gesicht ihres Papa überragte all die Jungsköpfe, während er die Bowle in kleine Pappbecher füllte. Neben ihr auf der Garderobenablage lagen eine Bonbonschachtel und zwei Taschentücher. Einige Mädchen hatten geglaubt, sie hätte Geburtstag; sie hatte sich bedankt und die Geschenke ausgewickelt, ohne ihnen zu sagen, dass sie erst in acht Monaten vierzehn wurde. Alle waren so sauber, frisch und festlich angezogen wie sie selber. Sie rochen gut. Die Jungen hatten ihr Haar eingeschmiert und glatt gebürstet. Die Mädchen nahmen sich in ihren verschiedenfarbigen Kleidern wie ein bunter Blumenstrauß aus. Bis jetzt lief es großartig. Der Anfang der Party war in Ordnung.
»Ich bin schottisch-irisch und französisch, und…«
»Ich hab deutsches Blut.«
Bevor sie ins Esszimmer ging, wies sie noch einmal mit lauter Stimme auf die Promenadenkarten hin. Bald begannen alle von der Diele hereinzuströmen. Jeder nahm sich eine Karte, und alle stellten sich in kleinen Gruppen an den Wänden auf. Nun ging es also richtig los.
Ganz plötzlich war sie da – diese seltsame Stille. Die Jungen standen auf der einen Seite des Zimmers, die Mädchen auf der anderen. Aus irgendeinem Grund gab niemand mehr einen Laut von sich. Die Jungen hielten ihre Karten in der Hand und sahen die Mädchen an; es war ganz ruhig im Zimmer. Keiner der Jungen machte Anstalten, ein Mädchen aufzufordern, wie es die Regel war. Die schreckliche Stille wurde immer schlimmer. Sie war noch nicht oft genug auf einer Party gewesen, um zu wissen, was sie machen sollte. Dann stießen die Jungen einander an und begannen zu reden. Die Mädchen kicherten – aber obwohl sie nicht nach den Jungen schielten, merkte man genau, dass sie nur daran dachten, ob sie Erfolg haben würden. Die schreckliche Stille war zwar vorbei, aber dafür war die Stimmung im Zimmer sehr nervös.
Nach einer Weile ging ein Junge zu einem Mädchen, das Delores Brown hieß. Sobald er sich bei ihr eingetragen hatte, stürzten alle anderen Jungen gleichzeitig zu Delores. Als ihre Karte voll war, stürzten sie sich auf ein anderes Mädchen namens Mary. Dann stockte plötzlich wieder alles. Ein oder zwei Mädchen wurden noch zur Promenade aufgefordert; auch zu ihr kamen drei Jungen, weil sie die Gastgeberin war. Und das war es dann.
Alle taten nichts weiter, als im Esszimmer und in der Diele rumzustehen. Die Jungen belagerten die Bowle und spielten sich voreinander auf. Die Mädchen klebten aneinander, lachten viel und taten so, als amüsierten sie sich köstlich. Die Jungs dachten an die Mädchen, und die Mädchen dachten an die Jungs. Aber alles, was dabei herauskam, war eine alberne Stimmung.
Da bemerkte sie Harry Minowitz. Er wohnte nebenan, und sie kannte ihn schon von klein auf. Obgleich er zwei Jahre älter war als sie, war sie jetzt viel größer als er. Früher hatten sie im Sommer auf dem Rasenplatz an der Straße miteinander gerauft. Harry war jüdisch, aber man sah es ihm nicht sonderlich an. Er hatte hellbraunes, glattes Haar und war heute Abend sehr adrett angezogen. Als er ankam, hatte er einen ganz erwachsenen Panamahut mit einer Feder an die Garderobe gehängt.
Er war ihr aber nicht wegen seiner Kleidung aufgefallen. Sein Gesicht sah anders aus, weil er nicht wie sonst seine Hornbrille aufhatte. Er hatte an einem Auge ein dickes rotes Gerstenkorn und konnte nur sehen, wenn er den Kopf wie ein Vogel auf die Seite legte. Ununterbrochen betastete er das Gerstenkorn mit seinen langen, hageren Händen, als täte
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