Das Herz ist eine miese Gegend
die Bedienung kam, und weitere zehnmal, als schließlich ein Kännchen Kaffee und zwei Eier im Glas vor ihm standen.
Sein immer noch verstörter Blick streifte die am Fenster sitzende Cornelia Mack, eine ebenso treue Stammkundin dieses geruhsamen alten Kaffeehauses, und sie lächelte ihn an. Dankbar lächelte er zurück, denn ihr Blick war so etwas wie ein Henkel an der Wirklichkeit, aus der er sich eben wieder fallen fühlte. Cornnelia mußte bemerkt haben, daß er ein und denselben Brief immer wieder las, und gerührt davon ignorierte sie die natürliche Barriere zwischen ihnen. Diese Barriere bestand darin, daß Cornelia als Herausgeberin eines literarischen Periodikums eine angesehene Intellektuelle war und er ein unseriöser Popheini. Ein Unterhaltungsjournalist. In dieser Stadt standen die Grenzen fest, man verbrüderte sich nur mit Ebenbürtigen. Doch war sie auch so klein, daß man jeden, den man meiden wollte, kannte.
»Ein guter Brief?« fragte sie jetzt über drei Tische hinweg.
»Weiß noch nicht«, sagte Giovanni, »muß ihn mindestens noch zehnmal lesen.«
Sie lachte, sagte: »Laß dich nicht stören« und vertiefte sich wieder in die Lektüre eines nicht sehr dicken Manuskripts.
Giovanni war sich wirklich seiner Gefühle nicht sicher. Wie immer, wenn es drauf ankam, streute eine Mischung aus Empfindungen, deren Zusammensetzung weder qualitativ noch quantitativ eindeutig war, durch sein Inneres. Da war ein Gefühl der Aufregung. Lauras Schrift, ihre Hand, die das Papier berührt hatte, ihre Gedanken an ihn beim Schreiben - fast hörte er ihre Stimme den Brief sprechen, wie in einem alten Film. Und synchron zu dieser Aufregung, die sich anfühlte wie Erröten am ganzen Leib, war da auch ein Gefühl von Banalität. Ganz normal, sie lebt. Ganz normal, sie war in Deutschland, hat sich Platten von mir besorgt, hat sich an mich erinnert, na klar, ich denke ja auch an sie. Ganz normal, sie wird bald dreißig und denkt an ihre Jugend. Ich bin bloß ihre Jugend. Ganz normal.
Aber natürlich war nichts normal. Zehn Jahre lang hatte sie nichts von ihm wissen wollen, nicht ob er an sie dachte noch was er tat, um zu leben. In Gedanken formulierte er schon Antworten.
Cornelia schenkte ihm einen Blick über den Rand ihrer Brille hinweg, als er aufstand. Er nickte ihr zu und hoffte, sie sähe ihm nicht nach. Sein Gang mußte unsicher sein. An der Tür drehte er sich um, ging zu ihrem Tisch zurück und sagte: »Ich weiß es jetzt. Ist ’n guter Brief.«
Sie nickte nur, als sei das für sie ohnehin schon klar gewesen, und sagte: »Dann hast du heut einen Feiertag.«
Nur um zu spüren, ob bei der Mauer am Fluß ein Rest von früher, von Laura, von ihm selbst noch aus der Zeit vor dem Dienst nach Vorschrift zu finden sei, ging er trotz des Nieselregens dorthin. Doch er blieb nicht einmal stehen, als er am verwaisten Anlegeplatz der Stocherkähne vorbeikam.
Er stieg die Treppen am Hölderlinturm zur Stiftskirche hinauf und eilte nach Hause, denn der Brief in seiner Tasche schien zu zappeln.
Die Mauer war längst zum Touristentreff verkommen und die frühere Besatzung in alle Winde verstreut. Lehrer, Sozialarbeiter, Politologen, Psychologen, Ingenieure, Elektriker, Verkäufer und Maler waren sie geworden, hatten Umschulungen, Computerkurse und Wohngemeinschaften hinter sich, hatten Kinder und konnten über den Spruch »Wir sind die, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben« längst nicht mehr lachen. So wie jetzt Giovanni mochte manch einer von ihnen um die Weihnachtszeit herum, wenn sie alle ihre Eltern besuchten, an der Mauer entlang streichen und sich melancholisch der alten, lächerlich gewordenen Hoffnungen und Träume erinnern. Die freie Liebe, das nicht entfremdete Leben, der überwundene Besitzanspruch, das tolerante Zusammenleben und die weite Welt. Und so etwas wie eine immerwährende Jugend. Die jetzige Jugend war schon das nächste schlechte Vorbild für die Kinder der Weltverbesserer, Außenseiter und freiwilligen Verlierer geworden.
Giovanni war das egal, denn erstens war ihm das Gejammer der Szene peinlich, und er wollte nicht schon jetzt ein Veteran sein, und zweitens hatte er Laura in der Tasche. Zumindest einen Brief, der zappelte und beantwortet werden wollte. Zu Hause legte er den Stapel Gedichte beiseite und wollte sich eben setzen, als das Telefon klingelte. Ein sehr deprimierter Stefan teilte ihm mit, daß die Plattenfirma den Vertrag nicht verlängere, drei weitere Firmen schon
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