Das Herz ist eine miese Gegend
fahren, und sich lieber mit einem Buch in den Zug gesetzt, aber dann keine einzige Seite gelesen, weil die Gedanken an Bo und die ständig wechselnden Bilder vor dem Fenster ihn ganz in Anspruch genommen hatten.
Eben verebbte das Raunen und Rascheln der herausgeputzten Düsseldorfer, und der Vorhang ging hoch.
Laute Rockmusik ertönte, und das Stück begann mit einer Schulhofszene. Von zwei Schauspielern glaubte Giovanni, sie könnten Bo sein, bis sie ihre ersten Sätze sprachen. Der dritte war es. Giovanni erkannte ihn sofort am Gang. Bo spielte einen verdrucksten Schüler, der, verspottet und erniedrigt von Lehrern und Kameraden, so lange kuschte, bis sich Gelegenheit zur Rache bot. Und diese Rache war fürchterlich. Er nahm einen Lehrer und eine Lehrerin als Geiseln, bedrohte sie mit einer brennenden Zigarette vor dem aufgeschraubten Tank eines Motorrades in der Gerätekammer der Turnhalle. Giovanni war hingerissen. Laura hatte recht, Bo spielte ausgezeichnet.
Aber es war auch so sehr der alte Bo, der da auf der Bühne tobte, daß Giovanni sich nicht sicher war, inwiefern er den rasen den Underdog überhaupt spielen mußte. Ich versteh nichts davon, sagte er sich und schaute fasziniert auf seinen Freund.
Der Pförtner am Bühneneingang warf ihm schon mißtrauische Blicke zu, als Bo endlich mit einer Plastiktüte unterm Arm heraustrat.
»He«, sagte Giovanni.
Bo sagte gar nichts und schien Sekunden zu brauchen, bis er begriff. Aber dann ging er gradewegs auf ihn zu und nahm ihn in die Arme.
Eine Weile standen sie so und atmeten einer in des andern Halsbeuge, bis Bo murmelte: »Arschloch. Hast du bis jetzt auf eine Entschuldigung gewartet?«
»Weiß nicht«, sagte Giovanni und löste sich von Bo. »Weiß ich nicht.«
»Dann frag ich dich was Leichteres.« Bo schien sich langsam zu fangen. »Hast du Hunger?«
»Lust, was zu essen, jedenfalls.«
Die Wände des Lokals waren mit Schauspielerfotos vollgepflastert, und Bo mußte, kaum daß sie saßen, zwei Schülerinnen Autogramme ins Programmheft schreiben.
»Du übersiehst das doch jetzt nicht etwa geflissentlich«, flüsterte er Giovanni zu, »wie mich die Massen lieben.«
Giovanni grinste und sagte: »Ich hasse diesen Rummel um deine Person.«
»Kriegst gleich den Chianti ins Gesicht«, sagte Bo und gab den Mädchen die Hefte mit seiner krakeligen, immer noch ungeübt wirkenden Unterschrift zurück. Den Satz »Ich hasse diesen Rummel um meine Person« hatte er früher immer zur Illustration seines künftigen Ruhms gebraucht, hatte sich dabei exaltiert die meist imaginären Locken aus der Stirn gestrichen und den entrückten Blick der belästigten Diva in die Ferne gerichtet. »Wenn du dich nicht zusammenreißt und mir meinen Applaus gönnst, dann sage ich den nächsten, daß du der halbe Siefan Moninger bist.«
»Welche Hälfte soll ich denn sein, Stef Mon oder Fan Inger?«
»Ja, ja. Bestell was, ich lad dich ein. Ich verdiene mich hier dumm und dämlich.«
Bo war ein richtiger Schauspieler geworden. Er hatte tiefe Gräben um den Mund, den schminkegeschädigten Teint, die ausgeprägte Gesichtsmuskulatur und diese theatertypische Blicklosigkeit, die das Warten auf einen Gesichtsausdruck signalisiert, die fortwährende Bereitschaft, auf sich selber zu verzichten und eine fremde Gebärde zu übernehmen. Die Linien in seinem Gesicht spiegelten die Erfahrungen angenommener Persönlichkeiten, und seine Gesten strahlten die Gewißheit aus, allgemeingültig und unmißverständlich zu sein. Seine Sprache hatte jede Dialektfärbung verloren, und trotzdem war all diese Künstlichkeit nichts Neues, sondern nur die Perfektionierung der Anfänge. Giovanni sah die vollendete Ausgabe seines früheren Freundes.
Noch vor der Abschlußprüfung hatte ihn der Düsseldorfer Intendant bei einer Vorführung des ReinhardtSeminars gesehen und ihm einen Vertrag angeboten. Bo hatte angenommen und eine Anfangsgage von dreitausend Mark ausgehandelt. Dann hatte er sich einen Abgang vom Seminar überlegt. So einfach engagiert zu werden, das war für ihn zu blaß. Es mußte schon etwas Ausgefallenes sein.
Er funktionierte eine Gruppenimprovisation, in deren Verlauf er der Trainerin seine Liebe erklären sollte, in eine rasende Vergewaltigungsszene um. Brüllend fiel er sie an, versuchte, sie in den Hals zu beißen, und riß ihr die Bluse von den Schultern »Ich will dich jetzt, du Hure!« schrie er, und genau in dem Moment, da sie zu zweifeln begann, ob er noch spielte oder schon
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