Das Herz ist eine miese Gegend
beschloß er hinauszugehen. Zu verlockend war die Nacht und viel zuwenig verlockend die Arbeit.
Ach, Ilse, ich hab dich gern, dachte er, was willst du bloß auf Ithaka? In einem alternativen Genossenschaftsprojekt ist doch kein Platz für deine Kunst. Und noch viel weniger für deinen Charme, der den Frauen dort den Kopf verdrehen wird, bis dich alle hassen, weil sie dich geliebt haben. Aber eine Idee, wozu er Ilse hätte raten können, kam ihm auch nicht. Abgesehen davon würde Ilse niemals einen Rat von ihm annehmen. Leuten, die nichts von Kunst verstanden, billigte er kein Einflußrecht auf sein Leben zu.
Eigentlich kein Wunder, daß dieses Land für Ilse zu klein wurde. Wie viele Kneipen oder ganze Stadtviertel es wohl schon gab, in denen er sich nicht mehr blicken lassen konnte?
Das Ithaka-Projekt war bekannt wie ein bunter Hund, ein Hätschelkind alternativer Hoffnungen auf ein nichtentfremdetes Leben. Klar, daß Ilse darauf angesprungen war. Giovanni hatte darüber gelesen, und in der Szene sprach fast jeder davon. Es schien, als wünschte sich eine ganze Generation, vor den neuerdings überall auftauchenden Fünfzigerjahre-Gespenstern zu fliehen. Ölige Haare, kantige Gesichter, Petticoats und Pferdeschwänze, das ganze klirrende Äußere der neuen Mode mußte wie eine Drohung wirken. Eine Drohung, die sagte: »Wir machen euch ungeschehen.«
Diese Drohung sprach aus dem coolen Gebaren gelackter Zwanzigjähriger, die Gesichter schnitten, als hätten ihre Mütter, um sie zu zeugen, mit Comicfiguren geschlafen, und aus den koketten Augenaufschlägen von Mädchen, die modischen Vorbildern wie Leni Riefenstahl nacheiferten. Die Drohung war konkret, denn längst gebrauchten diese Jungen einstmalige Ehrenzeichen als Schimpfwort: Außenseiter, Weltverbesserer, Sozialarbeiter, Underdog und Looser.
Ohne auf seinen Weg geachtet zu haben, fand sich Giovanni plötzlich in der Landhausstraße wieder. Er bog ab, bevor er Pauls und Lauras ehemaliges Haus passieren mußte, und ging schneller, denn bis nach Hause würde er jetzt eine halbe Stunde brauchen. Er war müde. Es war kurz vor vier.
Um zehn Uhr morgens stand er auf, denn er hoffte, die Texte noch fertigzubekommen, bevor Ilse und seine Freundin erwacht sein würden. Aber er fand, als er die Küche betrat, schon den Tisch gedeckt, und zwischen Trauben, Schinken, Brötchen und Orangensaft stand die Bronzekopie des Wagenlenkers. Daneben Ilse, der eben den Kaffee aus der Maschine nahm und nagte: »Schenk ich dir. Hat dir doch so gefallen.«
Giovanni war sprachlos.
Als die beiden später in ihren vollgepackten VW-Bus stiegen, Ilse ihn umarmte und einlud, recht bald nach Ithaka zu kommen, war er noch immer so gerührt, daß er nur sagte: »Bis gleich. Geh nicht verloren.«
»Unkraut«, schrie Ilse aus dem fahrenden Wagen und winkte. Dann beugte er sich zum Lenkrad hinüber und drückte lange auf die Hupe. Giovanni verschwand schnell im Hauseingang, als zwei Fenster in der Nachbarschaft aufgingen. Auf dem Heck des Busses klebte der Spruch »Krieg dem Rauschgift«. Davor war von Hand das Wort »Ich« geschrieben und dahinter ein Cannabis-Blatt gemalt.
Zwei Tage nach seinem neunundzwanzigsten Geburtstag, fünf Wochen nach Ilses Abreise und einen Tag, nachdem er sich vorgenommen hatte, alle Gedichte durchzusehen und die besten irgendwo anzubieten, fand Giovanni einen Brief im Kasten. Er steckte in einem blauroten Luftpostumschlag. Wie ein Schrecken ohne Angst war Giovannis Reaktion auf den Anblick der vertrauten kleinen Schrift. Er riß den Umschlag so hastig auf, daß der Brief selbst eine Ecke verlor. Lieber gespenstisch weit entfernter Giovanni, stand da, falls Du noch lebst, solltest Du mal nach unserem Spinnerfreund Bo sehen. Er macht sich. Nein, nicht zum Idioten, wie gewohnt, sondern ganz prächtig. Als Schauspieler. Und zwar macht er sich im Düsseldorfer Schauspielhaus in einer Hauptrolle. Das Stück heißt »Gimme Shelter«. und Du solltest es Dir ansehen. Hast doch eh was für die Kultur übrig. Entschuldige den flapsigen Stil, ich weiß nicht mehr, wie man Briefe an Dich schreibt. Hast Du manchmal an mich gedacht? Nein? Laura. So eine kleine Dicke mit Brille. Wenn Du Dich anstrengst, kommst Du drauf. Es geht mir gut, und von Dir würde ich das jetzt auch gern wissen. Setz Dich mal hin und schreib. Deine Laura. P. S. Wer ist Linda?
Im Cafe Völter gab es eine Ecke, in der man vor Bekannten fast sicher war. Giovanni hatte den Brief noch viermal gelesen, bis
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