Das Herz kennt die Wahrheit
musste lachen. "Das solltest du ihn besser nicht hören lassen."
"Ich merk' es mir. Und dort ist Gryf." Dem Jungen war nicht bewusst, dass sein Tonfall weicher wurde.
"Du magst ihn, nicht wahr, Whit?"
"Aye, Captain. Er ist mein bester Freund. Ohne Gryf wäre ich jetzt nicht hier."
"Du meinst auf der 'Undaunted'?"
"Ich meine hier, in diesem Leben. Ohne Gryf wäre ich jetzt bestimmt schon tot."
"Aber warum?" Sie nahm den Blick von dem Mann dort unten und sah den Jungen an, der sich an die Wanten klammerte.
"Als er mich fand, war ich mehr tot als lebendig."
Darcy stockte der Atem. "Warum, Junge? Was ist dir widerfahren?"
Er mied ihren Blick und schaute zur Seite. "Ich wurde … geschlagen."
"Weißt du, wer das getan hat?"
"Ja."
"Wurde diese Person bestraft?"
"Nein."
"Aber wieso? Du hast dich doch bestimmt jemandem anvertraut und erzählt, was vorgefallen war."
"Nein." Whit klang beinahe atemlos, doch Darcy wusste nicht, ob das an dem mühsamen Klettern lag oder ob die frische Brise in dieser Höhe seine Stimme fortgetragen hatte.
"Kannst du mir sagen, was geschehen ist, Whit?"
"Nein, Captain. Darüber werde ich nicht sprechen. Nicht mit Euch oder sonst jemandem."
Da der Bursche die Lippen hart zusammenpresste, begriff Darcy, dass er nicht die Absicht hatte, mehr zu erzählen. Sie dachte an den Schmerz in ihrem eigenen Herzen. Unmöglich könnte sie darüber reden, ohne zusammenzubrechen, und so weit würde sie es nicht kommen lassen. Offenbar erging es dem Jungen ähnlich. Vermutlich waren die Gefühle, die er in sich trug, einfach zu schmerzvoll, um sich einem anderen mitzuteilen.
Daher sagte sie bloß: "Ich bin froh, dass Gryf dich gefunden hat."
"Ja." Whit schaute zur Seite, dann zog er sich etwas höher. "Nach dem Tod meiner Mutter wollte mich niemand haben. Niemand außer Gryf."
"Und was ist mit dem, der dich geschlagen hat?"
"Ich habe immer Angst gehabt, dass man mich finden und wieder schlagen würde. Aber Gryf sagte, ich solle mir keine Sorgen machen. Er gab mir sein Wort, dass mir niemand ein Haar krümmen würde, solange er bei mir ist."
"Und, hat er sein Versprechen gehalten?" Darcy schaute hinab auf das Deck, wo der Mann mit seinen großen, tüchtigen Händen das Schiff auf Kurs hielt. Dieselben Hände hatten sie berührt und gehalten und in ihr eine Sehnsucht nach mehr entfacht.
"Ja. Gryf ist ein Mann, der zu seinem Wort steht." Der Junge lächelte und schien entschlossen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. "Kommt, Captain. Wir schaffen es bis zur Spitze."
Darcy musste lachen, als Whit Stück um Stück weiter nach oben kletterte, bis er am oberen Ende der Wanten angelangt war. Und obwohl seine Bewegungen unbeholfen waren, stand fest, dass er zu den wenigen Seeleuten gehörte, die nicht unter Höhenangst litten. Schon bald, da war sie sich sicher, würde er so behände wie sie klettern können.
Als sie den Jungen einholte, deutete sie voraus. "Land. Das wird Schottland sein, wo unser nächster Anlaufhafen liegt."
"Schottland." Whit schüttelte den Kopf. "Wer wird mir jemals glauben, dass ich so weit gesegelt bin?" Dann schaute er sich um und beobachtete den dunkelblauen Atlantik, der unter ihnen glitzerte. Von hier oben konnte man meilenweit in alle Richtungen schauen.
Plötzlich deutete er in die Ferne. "Was ist das, Captain?"
Überrascht rang Darcy nach Luft. "Gütiger Himmel. Ich habe die ganze Zeit dir zugehört, anstatt meinen Aufgaben nachzukommen." Sie beugte sich hinab und rief: "Schiff ohne Flagge. Backbord voraus mit vollen Segeln. Klarmachen zum Angriff."
Von weit unten drangen Newtons Befehle nach oben. "Alle Mann an Deck. Legt die Geschütze frei, Leute."
Darcy wandte sich an Whit. "Wir müssen sofort nach unten. Ich geh' voran. Du tust genau, was ich tue. Verstanden?"
"Aye, Captain."
Vorsichtig bewegte sie sich und gab Acht, dass der Junge immer einen Schritt über ihr blieb. Sie war darauf vorbereitet, ihn aufzufangen, sollte ihm ein Fehltritt unterlaufen, durch den er auf das Deck stürzen würde.
Als sie schließlich die Wanten hinuntergeklettert waren, sprang Darcy auf das Deck und wartete, bis auch Whit wieder festen Boden unter den Füßen hatte.
Sie packte ihn bei der Schulter. "Du gehst sofort unter Deck, Whit", sagte sie eindringlich. "Du schließt dich in meiner Kajüte ein und bleibst dort, ganz gleich, was geschieht."
Zu ihrer Verwunderung stemmte der Junge die Hände in die Hüften und sah sie trotzig an. "Um den Kampf zu verpassen?"
"Ja.
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