Das Herz meines Feindes
Ehre erwei sen, mit ihm den Teller zu teilen, wie es von Verlobten erwartet wurde. Sie erwartete einen Wutanfall seinerseits; sie hätte es begrüßt, wenn auf diese Weise die Wahrheit ans Licht gekommen wäre, denn diese Farce, die sie der gesam ten Gesellschaft vorspielten, hatte sie ganz und gar entmutigt. Doch nicht ihr Bräutigam, sondern ihr Vater wies sie wegen ihres widerspenstigen Verhaltens in die Schranken.
»Iß, Tochter. Iß und mach deinem Vater oder deinem Bräutigam keine Schande, indem du hier offen deine Launen zur Schau stellst! Willst du, dass man über dein Verhalten zu klatschen anfängt?«
Hinter ihrem Vater blickten Tullia und Santon vor sich hin, ihr Mahl war vergessen. Aber erst Odelias befriedigter Gesichtsausdruck bewegte Lilliane dazu, sich zu fügen. Sie wusste nicht, warum Odelia so gehässig zu ihr war, aber es war offensichtlich, dass sowohl sie als auch Aldis sich freuten, dass Lilliane so unzufrieden mit ihrer Heirat war.
Mit der größten Sorgfalt, damit ihre Finger nicht die von Sir Corbett berührten, wählte Lilliane den Kapaun. Aber sie konnte sich nicht daran erfreuen, und genauso wenig beach tete sie die beträchtliche Leistung des Kochs. Das Mahl war ihr durch die überwältigende Anwesenheit des Mannes an ihrer Seite vollkommen verdorben. In ihrem Magen bildete sich ein zorniger Knoten, und ihr Geist drehte sich immer wieder um die gleichen heftigen Gefühle. Mit jedem Stück, das er von dem gut gefüllten Teller herunternahm, mit sei nem befriedigten Gesichtsau s druck angesichts dieser köstlichen Mahlzeit, wurde Lillianes Zorn nur noch heftiger. Das einzige, was sie tun konnte, war, den Kapaun herunterzu würgen und ein einigermaßen gleichmütiges Gesicht aufzu setzen.
Corbett sprach während des Mahls kein Wort mit ihr. Er zog es scheinbar vor, sich mit ihrem Vater zu unterhalten. Sie sprachen von den Feldern und den Leibeigenen, der Jagd, die in den umliegenden Wäldern anstand und von dem Zustand der Verte i digungsanlagen des Schlosses. Zwischen den beiden Männern herrschte immer noch eine gewisse Spannung, ein Unbehagen, das sich auf zu vielen Jahren des Misstrauens gründete. Aber trotzdem verlief das Gespräch reibung s los, und die Spannung schien sich zu lösen.
Als die beiden Männer sich unter dem Einfluss des guten Essens und des reichlich fließenden Weines entspannten, folgte ihnen auch der Rest der Gesel l schaft. Langsam kehrte ihre ausgelassene Stimmung zurück, bis die Halle vor La chen und Schwatzen wide r hallte, eine festliche Gesellschaft, die voller Vorfreude auf die bevorstehende Hochzeit war.
Aber Lillianes Stimmung hob sich keineswegs. Wie konn te sie leichten Herzens hier feiern, wenn ihr Leben zerstört war, schäumte sie vor Wut. Und als ob er sie noch weiter be leidigen wollte, ignorierte sie dieser große Narr, als ob sie und ihre Gefühle ohnehin vollko m men belanglos wären. Es war ganz offe n sichtlich, dass die beiden Männer bei ihrer En t scheidung keinen Gedanken an sie verschwendet hatten.
Erst als die Platten mit frischen Früchten und goldgelbem Gebäck gebracht wurden, wandte Sir Corbett ihr seine Auf merksamkeit erneut zu. Sie spielte mit dem leeren Becher herum, als er seine große Hand plötzlich über die ihre legte. Lilliane war vollkommen sprachlos angesichts dieser unerwart e ten Geste. Mit einem Keuchen versuchte sie sich aus seinem unwillkommenen Griff zu befreien, aber seine Finger schlössen sich nur um so fester um die ihren.
Lilliane war ebenso verwirrt von der durchdri n genden Wärme seiner Hand wie von der Vermutung, was er nun tun würde, und warf ihm einen vor Wut funkelnden Blick zu. »Lasst mich sofort los, Halunke!« zischte sie. »Ihr geht zu weit, wenn Ihr…«
»Man erwartet, dass ich mich zu Euch hingezogen fühle.« Er grinste ihr boshaft zu, und seine narbige Braue hob sich diabolisch. »Ich möchte fast behaupten, dass Euer Vater begeistert sein wird, wenn er bemerkt, wie überwältigt ich von seiner >Lily< bin.«
»Wagt es nicht, mich so zu nennen!«
»So heißt Ihr doch, oder etwa nicht? Ich muss einräumen, dass Lilliane besser zur Erbin von Orrick passt. Lily klingt eher nach einem süßen und einfachen jungen Mädchen, ei nes, das die Dienerin eines edlen Herrn ist.« Seine Augen funkelten, so sehr amüsierte er sich auf ihre Kosten. »Ich ziehe Lily vor.«
Lilliane kochte vor Wut. »Vielleicht solltet Ihr Euch dann unter Euren vielen Dienerinnen eine aussuchen, wenn es das ist, was
Weitere Kostenlose Bücher