Das Herz Von Elowia
zerfiel um Leondron herum, genau wie sein Leben. Er setzte nur langsam einen Fuß vor den anderen, denn er hatte es nicht eilig, sein Ziel zu erreichen und dennoch kam der unausweichliche Moment, wo er vor dem Zimmer seiner Tochter stand.
Stumm und ohne zu klopfen, trat er ein. Da lag sie. Eingerollt wie ein kleines Kind, die Knie bis zum Kinn gezogen, die Flügel dicht um ihren Körper geschlungen und schlief. In seinen Augen war sie nie erwachsen geworden, in seinen Augen war sie immer das Kind geblieben, welches er in den Schlaf gesungen und getröstet hatte, wenn sie bei ihren ersten Flugversuchen gestürzt war. Und jenes Mädchen sollte nun die Frau geworden sein, die so kaltblütig und ohne Reue den Spiegel vergiftet hatte? Den Spiegel Elowias, den Schatz der Fangaren, den es zu beschützen galt, wenn nötig auch mit dem eigenen Leben.
Was hatte nur falsch gemacht? Was war so schief gelaufen, dass der Spiegel seine Tochter erst nicht zur Wächterin ernannt und sie ihn deshalb aus Rache vergiftet hatte?
Es zerriss ihm fast sein Herz, sie aus dem Schlaf und in die Realität, in seine Realität holen zu müssen, in der er sie hart bestrafen werden würde. »Fanjolia, wach auf«, raunte er und seine Stimme hätte ihm beinahe den Dienst versagt.
Sie drehte sich um und blinzelte ihn aus verschlafenen Augen an. Als sie ihren Vater bemerkte, wurden ihre Augen schmal. »Vater?«, fragte sie unterkühlt.
»Der Spiegel wurde vergiftet«, sagte er leise und sah dabei seine Tochter lange an. Sie setzte sich auf die Bettkante, ihr silbernes Nachtgewand funkelte im Mondlicht mit ihren wunderschönen und einzigartigen Flügeln um die Wette.
Ihre Gesichtszüge waren angespannt, ihre Stimme frostig. »Und jetzt verdächtigst du mich, nicht wahr Vater?«
Leondron ließ resigniert seine Flügel sinken, mit ihrer kaltherzigen und desinteressierten Art zerstörte sie auch den letzten Rest seiner Hoffnung, der Spiegel könnte sich geirrt haben. Da kam kein einziges Wort des Bedauerns oder des Entsetzens über ihre Lippen, nur Schmach und Ablehnung.
»Ich verdächtige dich nicht, ich weiß es. Der Spiegel hat es mir gezeigt.«
Fanjolia stand auf, ihren schlanker Körper zu einer leblosen Statue verkrampft, zischte sie: »Der Spiegel hasst mich, natürlich lügt er, um mich als Schuldige darzustellen. Wem glaubst du mehr: Mir, deiner Tochter oder dem Spiegel?«
Leondron hatte auf diese Frage gewartet und sie gefürchtet.
»Dem Spiegel.« Die Worte waren ihm kaum aus dem Mund gekommen, so trocken klebte die Zunge an seinem Gaumen.
»So ist das also«, antwortete seine Tochter gezwungen ruhig. Leondron konnte in ihren Augen Tränen glitzern sehen, aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht mehr nehmen. Sie hatte ihren Weg gewählt und musste nun die Konsequenzen ihres Verhaltens tragen. Auch er würde nicht verschont bleiben, denn er hatte als Wächter versagt und seine Pflicht nicht erfüllt.
Er wappnete sich für den letzten Satz, den er noch aussprechen musste. »Nach dem Gesetz der Fangaren werde ich das erste Gebot des Hochverrats an dir anwenden und dein Schicksal in Drachenschlunds Hände legen. Möge er deiner Seele gnädig sein und nicht zu hart über dich urteilen.«
Fanjolia verlor jegliche Farbe und ihre dunkle Haut wurde so weiß, wie die ihres Vaters.
»Das kannst du nicht tun«, hauchte sie und umschlang verzweifelt seinen Arm.
Leondron war innerlicher nur noch ein Wrack, als er stumm den Kopf schüttelte und wortlos ihr Zimmer verließ, nicht ohne es vorher abzusperren. Als er mit gesenktem Kopf und schweren Schrittes den Gang entlang ging, hörte er ihr panisches Hämmern an der Tür und ihr herzzerreißendes Schluchzen, wie es durch die leeren Gänge hallte. Leondron hob seinen Kopf und schrie in die heiligen Hallen hinein: »Musstest du denn deiner Mutter in den Wahnsinn folgen. Musstest du das?«
Er sank kraftlos in die Knie und schlug die Flügel über seinem Kopf zusammen und seine Schultern zuckten. Er schluchzte: »Kaleida, ich konnte sie nicht beschützen, genauso wenig wie ich dich beschützen konnte. Ich habe versagt. Das Herz von Elowia ist für immer verloren. Meine geliebte Kaleida unsere einzige Tochter ist des Todes.«
Er erhob sich wieder, indem er seine Finger in die Wand krallte und sich mühsam hochzog. Seine Knochen schienen ihm wie Wachs, keiner, seiner Gliedmaßen wollten ihm so recht gehorchen. Nur langsam kam er voran und nur schleichend näherte er sich dem dunklen Tor - dem verbotenen Tor.
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