Das Hexen-Amulett (German Edition)
sehen? Ein erbärmliches Wesen, bleich, abgemagert und in Tränen aufgelöst. Wer würde da nicht Mitleid empfinden?» Er hob eine Hand wie zur Abwehr. «Oh, sie wird natürlich verurteilt werden, davon bin ich überzeugt. Dennoch könnte es sein, dass man sich ihrer erbarmt. Meine Erfahrung im Umgang mit Menschen hat mich zweierlei gelehrt. Erregt eine Frau Mitleid bei einem Mann, wird er ihr zu helfen versuchen. Das wäre in unserem Fall riskant.»
Ebenezer verlagerte sein Gewicht auf das gesunde Bein und streckte das kranke aus. «Und das andere, Sir? Die zweite Lehre?»
«Ah, ja. Sieht dagegen ein Mann eine Frau im Stolz ihrer Schönheit und prächtig gekleidet, regt sich Unmut in ihm. Warum sollte ein anderer eine solche Frau besitzen, während man selbst an eine hässliche alte Schnepfe gebunden ist?» Er lachte. «Nicht dass Ihr glaubt, ich wäre persönlich betroffen. Wie dem auch sei, wenn unsere Geschworenen eine schöne, stolze Frau vor sich sehen, wird ihnen genau diese Frage durch den Kopf gehen. Und am Ende werden sie vernichten wollen, was sie nicht besitzen können. Ist Euch selbst noch nicht aufgefallen, wie sehr Männer danach trachten, schöne Dinge zu zerstören? Wir wollen ihnen Gelegenheit dazu geben und ihren Hass schüren.»
«Ihr empfehlt mir also, sie herauszuputzen?»
«Wie scharfsinnig Ihr seid. Ja, und ich empfehle mehr als das. Für eine kleine bescheidene Summe, für zehn Pfund nur, könntet Ihr eine Wohnung für Eure Schwester anmieten und sie von einer Hausdame bedienen lassen. Sie muss gewaschen, gekleidet und so gut versorgt werden, dass sie wieder zu Kräften kommt. Kauft Ihr ein hübsches Kleid, eines, in dem sie verführerisch wirkt – wie eine Hure, als die sie Goodwife Baggerlie bezeichnet hat. Und ringt ihr ein Geständnis ab!»
Ebenezer kniff die Brauen zusammen. Er wusste sich nur mit Folter zu helfen.
Higbed lachte. «Sir Grenville sagt Euch eine glänzende Zukunft voraus, Mr Slythe. Er hält Euch für sehr intelligent. Denkt nach, und Ihr werdet einen Weg finden. Vor allem aber sorgt dafür, dass sie hübsch herausgeputzt ist. Dann haben wir schon so gut wie gewonnen.»
Caleb Higbed verabschiedete sich, ging durch die Stadt nach Hause und winkte alten Bekannten zu, die ihm unterwegs begegneten. Es interessierte ihn nicht weiter, warum ein Bruder seine Schwester zu vernichten trachtete, zumal solche Familienstreitigkeiten durchaus nicht ungewöhnlich waren. Persönlich zweifelte er daran, dass es Hexen gab, aber Anwälte wurden nicht für ihre Überzeugungen bezahlt, sondern dafür, andere zu überzeugen. Er würde die Anklage vor Gericht vertreten und zweifelte keinen Augenblick daran, eine Verurteilung im Sinne Sir Grenvilles zu erwirken, um ihm, dem so überaus einflussreichen Mann, einen kleinen Gefallen zu tun. Er nickte mit heiterer Miene den Wachen am Ludgate zu. «Einen schönen Tag, die Herren, einen schönen Tag.»
Gott war im Himmel, der König hatte auf dem Marston-Moor eine weitere Niederlage erlitten, und für die Protestanten war die Welt in Ordnung.
In ihrer Zelle sang Campion, scheinbar irregeworden, mit zitternder Stimme eine Gedichtzeile immer und immer wieder vor sich hin. «Lehr mich, der Nymphen Lied vernehmen, lehr mich, der Nymphen Lied vernehmen …» Sie war verloren.
21
Für Treu-bis-in-den-Tod Hervey war die Welt nicht in Ordnung. Ehrgeiz ist ein strenger Zuchtmeister, der sich mit kleinen Fortschritten nicht zufriedengibt und nur den vollen Erfolg anerkennt. Der war dem Pfarrer jedoch bislang versagt geblieben. Beklagen durfte er sich aber auch nicht, jedenfalls nicht laut, denn Ebenezer hatte ihm ein stattliches Haus an der Seething Lane zur Verfügung gestellt und Goodwife Baggerlie beauftragt, für sein Wohlbefinden zu sorgen. Doch darum ging es ihm nicht – er wollte Ruhm.
Immerhin schien es, als sei er diesem Ziel einen kleinen Schritt näher gekommen. Drei Amtsbrüder hatten sich bei ihm gemeldet, von denen zwei in der Kunst der Hexenerkennung unterwiesen werden wollten. Er hatte sie fortgeschickt mit dem Rat, Gott zu bitten, dass er sie gegen den Teufel wappnen möge. Außerdem war Hervey eingeladen worden, in St. Mary’s Overie eine Predigt zu lesen, doch hatte es an jenem Sonntagvormittag so heftig geregnet, dass nur sehr wenig Kirchgänger erschienen waren. Zudem lag St. Mary’s in Southwark jenseits des Flusses. Treu-bis-in-den-Tod jedoch träumte davon, in der St. Paul’s Kathedrale vor gefüllten Bänken zu
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