Das Hexenbuch von Salem
nickte, bedeutete ihr, ihm das Buch zu reichen, und sie stand auf und gab es ihm. Er griff gierig danach, und ein kleiner Streifen der brüchigen Lederbindung löste sich vom Buchrücken und fiel als Opfer seiner Hast zu Boden. Er leckte sich den Daumen und drehte das Frontispiz um. Connie zuckte innerlich zusammen, als sie daran dachte, welchen Schaden er damit vermutlich anrichten würde, schob das Gefühl dann jedoch beiseite, während sie seine Reaktion beobachtete.
»Aber was …«, begann er, und seine Stimme verebbte, während die Erregung in seinem Gesicht dahinschmolz wie
große Wachsplatten. »Das ist ja bloß eine Gezeitentabelle!«, rief er und blätterte. »›Wettervorhersagen für den Januar I672‹«, las er laut vor und schlug eine weitere Seite um. »›Hinweise für den Anbau von Mais‹.« Er blickte zu ihr hoch, das Gesicht eine Fratze des Ärgers. »Was ist das denn?«, fragte er.
»Es ist ein Almanach«, erwiderte sie schlicht. Auf die Notizen schauend, die sie sich auf dem Zettel gemacht hatte, erläuterte sie: »Privat veröffentlicht in Boston, etwa um I670, kein Autor aufgeführt.«
»Das ist nicht das Buch der Schatten?«, fragte er mit aufbrausender Stimme.
»Vermutlich nicht.« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich dachte, das könnte es sein. Aber sieht so aus, als wäre das ein ganz normales Handbuch für Bauern.«
Über seine Augen hatte sich eine ölige Schicht gelegt, als er ihr rüde das Buch in die Arme drückte, wobei noch mehr Teile der Bindung auf den Boden des Archivs herabregneten. »Das ist sehr enttäuschend, Connie«, zischte er zwischen zusammengebissenen Kiefern hervor. Er wandte sich von ihr ab und marschierte mit raschen Schritten zum Mittelgang des Archivs zurück. Als er dort angelangt war, drehte er sich noch einmal zu ihr um.
»Ich muss Sie warnen«, sagte er, einen Zeigefinger ausgestreckt. »Sie haben guten Grund, dieses Buch zu finden. Ich bin mir sicher, Sie wissen, was ich meine.«
Sie starrte ihn wortlos an. »Und«, fuhr er fort und zeigte auf die tickende Zeitschaltuhr, »ihre Zeit ist fast abgelaufen.«
Genau in diesem Moment gab der Automatismus ein Klicken von sich, und Connie wurde von der Dunkelheit verschluckt.
Über ihr steckten die Ulmen am Harvard Yard ihre laubbewachsenen Äste zusammen und erfüllten die Luft mit einem flüsternden Murmeln, das Vorbote eines abendlichen Gewitters zu sein schien. Connie ging mit gesenktem Kopf über den Platz, die Arme verschränkt, die Schultertasche baumelte an ihrer Hüfte. Eine kühle Brise zirkulierte rund um die Baumstämme, wirbelte an ihren Beinen hoch und machte ihr eine Gänsehaut. Wie jedes Jahr überraschte sie der Wechsel der Jahreszeiten, obwohl sie ihr ganzes Leben in Neuengland verbracht hatte. Sie rieb sich fest über die Oberarme, um warm zu werden. Schon bald würde der Campus wieder voller Studenten sein, die sich Frisbees zuwarfen, kopfnickend in Handys sprachen, das Laub raschelnd zu ihren Füßen. Wenn die Jahreszeiten ineinander übergingen, hatte Connie jedes Mal das Gefühl, dass ihr die Zeit davonlief, wie Erdkrumen, die ihr durch die Finger rieselten. Es war ein Gefühl, das sie nicht mochte, denn es erfüllte sie mit einem unbestimmten Gefühl der Angst. Dass die Zeit mit gewaltigen Schritten vorwärtspreschte, verstärkte in ihr das Gefühl, wie klein und machtlos sie war.
Connie blickte über ihre Schulter; niemand folgte ihr. Sie vermutete, dass Chilton ins Gebäude der Historischen Fakultät zurückgekehrt war, konnte sich aber nicht sicher sein. Die Drohung, die er in der Bibliothek ausgesprochen hatte, ließ sie nicht mehr los, so unheilvoll, wenngleich vage, sie gewesen war. Offenbar stellte die Konferenz der Colonial Association eine Art Deadline für Chiltons Forschungen dar. Doch seine Augen hatten so finster geblickt, dass durchaus noch mit schlimmeren Drohungen zu rechnen war. Nachdem er sie dort im Dunkel des Archivs der Spezialsammlung zurückgelassen hatte, waren ein paar Minuten vergangen, in denen sie versucht hatte, sich darüber klar zu werden, welchen Schritt sie als Nächstes unternehmen wollte. Denn während er noch über
Alchemie, den Stein der Weisen und die Verheißungen, die seine Entdeckung angeblich mit sich bringen würde, schwadroniert hatte, hatte in einem verborgenen Winkel von Connies Denken eine Idee begonnen, Gestalt anzunehmen.
Ich bin kein Sexist, hatte er mit gewissem Sarkasmus gesagt. Während sie nun mit gebeugten Schultern über den
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