Das Hexenbuch von Salem
nicht weit von Walden Pond, niedergelassen. Die Kommune – denn darum handelte es sich in Wirklichkeit – hatte sich ein unauffälliges Bauernhaus mit deutlicher Schräglage ausgesucht, versteckt hinter ein paar Morgen Wald und zwischen zwei knorrigen Apfelbäumen, die im Herbst die Luft mit durchdringendem Mostgeruch erfüllten. Connie hegte den Verdacht, dass Grace das Haus teilweise deshalb mit Menschen füllte, weil sie die Leere ausgleichen wollte, die Leos Verlust hinterlassen hatte. Ganze Scharen von aufgeschlossenen jungen Leuten latschten durch ihr Haus: meistens Musiker, aber auch Studenten, Dichter oder Frauen, die sich ernsthaft mit Töpfern beschäftigten.
Connies erste bewusste Erinnerung war eine morgendliche Szene in der Küche dieses Bauernhauses, die durch einen Holzofen beheizt wurde und nur mit einem nackten Picknicktisch sowie mehreren Töpfen Thymian und Rosmarin möbliert war. Connie war noch ein Kleinkind, gerade mal so hoch wie der Tisch, und sie weinte. Und sie wusste noch, wie Grace sich damals zu ihr gebeugt hatte, bis ihr offenes, junges Gesicht auf gleicher Höhe mit Connies langem, strohblondem Haar war und sagte: »Connie, du musst versuchen, deine Mitte zu finden.«
Graces finanzielle Mittel während Connies Kindheit waren
aus verschiedenen, teils obskuren Quellen gekommen, einschließlich einer makrobiotischen Bäckerei, mit der es Grace allerdings nicht gelungen war, sich eine feste Kundschaft unter den eher gesetzten neuenglischen Hausfrauen von Concord zu erobern. Als Connie zu einem jungen Mädchen herangereift war, hatten sich Graces Interessen zu etwas zusammengefügt, was sich »energetisches Heilen« nannte. Kunden suchten sie auf, klagten über allerlei Zipperlein sowohl körperlicher wie spiritueller Art, und Grace führte in ihnen eine Veränderung herbei, indem sie mit den Händen über ihre biologischen Energiefelder strich. Noch heute rümpfte Connie die Nase, wenn sie daran dachte.
Als Teenager hatte Connie gegen die Flatterhaftigkeit und Freizügigkeit ihrer Mutter aufbegehrt, indem sie ihr Zuverlässigkeit und Ordnungssinn entgegensetzte. Jetzt, da sie selbst eine Erwachsene war, brachte Connie Grace jedoch immer mehr Sympathie entgegen. Aus der durchaus angenehmen Distanz heraus, die sich zwischen ihrer von Planlosigkeit geprägten Kindheit und dem chintzbezogenen Lesesessel, in dem sie in diesem Moment saß, erstreckte, konnte Connie Graces exzentrische Art durchaus als liebenswert und naiv betrachten, statt wie früher als Zeichen der Verantwortungslosigkeit und eines liederlichen Lebenswandels.
Als Connie nach Mount Holyoke gezogen war, hatte Grace das verkauft, was von dem langsam in sich zusammenbrechenden Bauernhaus übrig war, und siedelte nach Santa Fe über. Damals behauptete Grace, sie sei bereit, an einem Ort »voll heilender Energie« zu leben. Connie schnaubte jedes Mal verächtlich, wenn sie an diese Formulierung dachte, aber irgendwann beließ sie es dabei. Schließlich hatte ihre Mutter das Recht darauf, glücklich zu sein. Connie wusste, dass auch ihre eigenen Lebensziele einem Betrachter von außen
unbegreiflich sein könnten, erst recht einem, der etablierten Institutionen so kritisch gegenüber stand wie Grace. Grace fragte sich bestimmt oft, wie es kam, dass sie einen so andersartigen Sprössling aufgezogen hatte, und doch hatte sie Connie auf ihre eigene, unorthodoxe Weise immer in ihren Entscheidungen unterstützt.
Wahrscheinlich hatte es Grace einige Mühe gekostet, sich daran zu erinnern, dass heute ihr Prüfungstag war, aber sie hatte nie auch nur den Versuch unternommen, Connie davon abzubringen, Geschichte zu studieren, ein Bücherwurm zu werden, so ernst und ordentlich zu sein. Gelegentlich äußerte sie den Wunsch, Connie würde sich auf die Suche nach ihrer »Seelenwahrheit« begeben, doch Connie hatte dies stets als die hippiemäßige Auslegung des Wunsches interpretiert, sie solle einfach das tun, was ihr als richtig erschien.
Connie stellte ihre leere Tasse auf den Boden und griff nach dem Telefon.
Es klingelte vier Mal, und gerade wollte Connie auflegen, als am anderen Ende der Leitung klappernd der Hörer abgenommen wurde, und eine atemlose Stimme sagte: »Hallo?«
»Mom?«, fragte Connie. »Hi! Liz hat mir eine Nachricht hinterlassen, dass du angerufen hast. Ich hoffe, es ist nicht schon zu spät.« Ihre Augen leuchteten vor Zuneigung. Während des vergangenen Jahres hatte Connie sich immer wieder irgendwelche Vorwände
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