Das Hexenbuch von Salem
den heißen Teebecher unter ihrer Nase. Sie machte sich kaum die Mühe, den Raum um sie herum wahrzunehmen; schließlich verbrachte sie so viel Zeit hier. Doch lange würde es nicht mehr dauern, und sie und Liz würden sich diesen
Kaninchenbau nicht mehr teilen. Der Gedanke an diesen neuen Lebensabschnitt war aufregend, dennoch verspürte sie dabei auch eine Distanziertheit, ja Traurigkeit. Aber noch lag jener Tag in weiter Ferne. Connie nahm einen Schluck Tee und ließ sich von seinem erfrischenden Geschmack in die Gegenwart zurückholen.
Selbst für ihre Mutter war es vermutlich ein bisschen spät. Doch auf dem Zettel hatte gestanden, sie solle so bald wie möglich zurückrufen, und Connie hatte sich so sehr darüber gefreut, dass Grace an ihre Prüfung gedacht hatte, dass sie beschloss, sich gleich zu melden, auch wenn sie ihre Mutter unter Umständen weckte. Dabei war sie sich gar nicht sicher, wann sie das letzte Mal mit ihrer Mutter gesprochen hatte. War das um Weihnachten herum gewesen? Connie war in Cambridge geblieben, um für ihre Prüfung zu lernen, und am Weihnachtstag hatten sie eine Weile am Telefon geplaudert. Doch irgendwann danach mussten sie sich noch einmal telefonisch erreicht haben. Connie wusste, dass sie ihr aufs Band gesprochen hatte, aber wann sie wirklich persönlich mit ihr geredet hatte, daran konnte sie sich nicht mehr erinnern. Wann war das nur gewesen? Connie legte zwei Finger an ihre Stirn und stöhnte leise auf. Genau – als Grace sie angerufen hatte, um ihr eine gute Tagundnachtgleiche zu wünschen. Natürlich. Das war typisch für Grace Goodwin.
In ihren launischeren Momenten, damals, als sie noch jünger und zorniger war, hatte Connie für ihre Mutter das Epitheton »ein Opfer der Sechzigerjahre« geprägt. Mit zunehmendem Alter jedoch begann sie, ihre Mutter mit einem distanzierteren, fast anthropologischen Interesse zu betrachten. Mittlerweile benutzte Connie, wenn man sie dazu drängte, Grace zu beschreiben, den Ausdruck »Freigeist«. Es war immer schwer zu wissen, wo man anfangen sollte, wenn die Sprache auf Grace kam.
Vielleicht vermied es Connie deshalb, ihre Mutter zum Thema zu machen, weil auch ihre eigene Entstehung charakteristisch für Graces fundamentalen Mangel an Planung war. Connie war das unvorhergesehene Ergebnis einer Liebesaffäre gewesen, die Grace in ihrem letzten Studienjahr in Radcliffe im Jahre I966 gehabt hatte. Eine Affäre, die Grace, das musste man dazu sagen, mit ihrem Assistenten in Östlichen Religionen gehabt hatte, was Connie mit unverhohlener Missbilligung quittierte, besonders jetzt, da sie selbst auf ihren Abschluss hinarbeitete. Leonard Jacobs, von Grace und ihren Freunden »Leo« genannt. Connies Augen wanderten zum obersten Regal über ihrem Schreibtisch, wo ein Schwarz-Weiß-Foto stand. Es zeigte einen sensiblen jungen Mann mit feuchten Augen, der einen Rollkragenpullover trug; seine Wangenknochen waren ebenso hoch wie die von Connie, und er hatte lange Koteletten und zerzaustes Haar. Er blickte direkt in die Kamera, ohne zu lächeln, und eine junge Frau mit glattem, in der Mitte gescheiteltem Haar lehnte sich an seine Schulter und schaute verträumt zur Seite. Grace – ihre Mutter.
Was Leo davon gehalten hatte, dass Connie unterwegs war, blieb nicht für die Nachwelt überliefert, obwohl Grace stets zu verstehen gegeben hatte, dass die beiden große romantische Pläne geschmiedet hatten. Unglücklicherweise war diesen Plänen jedoch durch die Maschinerien der Außenpolitik ein jähes Ende bereitet worden. Obwohl er seine Studienzeit so lange wie möglich hinausgezögert hatte, war Leo im Jahre I966 endgültig fertig geworden. Seine Beurlaubung vom Militärdienst wurde damit hinfällig, und drei Monate vor Connies Geburt war er im Zuge des Vietnamkrieges mit Ziel Südostasien eingeschifft worden.
Um dort spurlos zu verschwinden.
Connies Traurigkeit über den Verlust ihres Vaters, die zu
gleichen Teilen mit Unbehagen wie mit Widerwillen eingefärbt war, war so groß, dass sie niemals mit jemandem darüber gesprochen hatte – nicht einmal mit Liz. Wenn in Gesprächen mit Freunden oder Kollegen das Thema auf Väter kam, versuchte Connie, es rasch abzubiegen. Selbst jetzt, da sie in der Geborgenheit ihres Studienzimmers darüber nachdachte, während ihr Hund schnarchend unter dem Lesesessel lag, runzelte Connie bedrückt die Stirn.
Grace hatte indessen ihr Studium knapp geschafft und sich zusammen mit ihrer kleinen Tochter in Concord,
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